Sonntag, 31. Dezember 2017

Inferno in Zolchow

Mai 1945 - "Ich kann nicht mehr leben in diesem geschändeten Haus, ich helfe mir selbst."

Otto Bading der Jüngere (gest. 1945) in Zollchow (Wiki) und Otto Bading (1906-1979) in Bahnitz lebten mit ihren Familien etwa 20 Kilometer voneinander entfernt in Bauerndörfern im Elb-Havel-Winkel, bzw. im Westhavelland. Sie waren nicht nur Namensvettern, sondern auch richtige Vettern, genauer gesagt: Halbvettern.*) Der Bahnitzer Otto Bading war der Opa des Verfassers dieser Zeilen. Beide Vettern werden so ziemlich gleichen Jahrgangs gewesen sein. Sie hatten denselben Großvater Bading aus Bahnitz. Sie waren beide Bauernsöhne und Hoferben.  

Abb. 1: Konfirmation von Elfriede Bading, der jüngeren Schwester von Otto Bading auf Hof Nr. 5 in Bahnitz im Jahr 1927 - Die Zollchower Verwandtschaft ist vollständig versammelt**)

Der Bahnitzer Otto hatte sich seine Frau Johanna aus Zollchow geholt (die Oma des Verfassers dieser Zeilen). Dort hatte er sie - vermutungsweise - während eines Besuches oder auf einer Familienfeier kennen gelernt. Wenn es Familienfeiern gab - wie Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten oder Sterbefälle - kamen beide Familien zusammen, einmal in Zollchow, einmal in Bahnitz (Abb. 1). 

Von einer solchen Familienfeier hat sich in Familienalben ein Foto erhalten (Abb. 1). Der Autor dieser Zeilen hatte dieses Foto immer als eine harmlose Fotografie erachtet. Er hatte bis heute - bis zum Jahr 2017 - nicht gewußt, welch schweres Schicksal eine der darauf abgebildeten Familien im Jahr 1945 in Zollchow erlebte.

Der Zollchower Otto hatte in den 1920er Jahren den Hof seines Vaters übernommen. Nach 1933 war er in Zollchow Ortsbauernführer geworden. Der Bahnitzer Otto hat ebenfalls den Hof seines Vaters übernommen und war nach 1933 Ortsgruppenleiter, Amtsvorsteher und Bezirksbauernführer in Bahnitz geworden. Und das Schicksal des Zollchower Otto Bading, seiner Ehefrau und seiner beiden minderjährigen Kinder im Mai 1945 lassen erahnen, was auch dem Bahnitzer Otto Bading, dem Opa des Verfassers dieser Zeilen, sowie seinen damals minderjährigen Kindern im Mai 1945 in Bahnitz hätte widerfahren können, wenn sich der Bahnitzer Otto Bading zum Zeitpunkt des Einmarsches der Roten Armee nicht in französischer Kriegsgefangenschaft befunden hätte, sondern zu Hause auf seinem Hof in Bahnitz im Elb-Havel-Winkel. 

Über das Schicksal des Zollchower Otto Bading und seiner Familie berichtet der letzte Gutsherr von Zollchow, der Leutnant a. D. Martin von Katte (1896->1987), in seinen Erinnerungen (1). Der Name von Katte hat in unserer Familie einen guten Klang. Unsere Oma Johanna Bading (1911-1985), geborene Bleis, die in Zollchow als Halbbauern-Tochter geboren und aufgewachsen war (5), hat oft von den Katte's gesprochen. Der Name von Katte wurde von ihr bis an ihr Lebensende mit Hochachtung genannt. Wenn sie Ilse von Bredows "Kartoffeln mit Stippe" las, dachte sie wohl immer an ihre Zollchower Gutsfamilie von Katte, die einen ähnlich historischen Namen hatte wie die Bredows und in der ähnliche Mentalitäten mögen vorherrschend gewesen sein. 

Inferno in Zollchow

Dem Gutsherrn Martin von Katte (1896->1987) gelang es noch Anfang April 1945, sich und seine Familie mit einem LKW von Zollchow aus in das Jagdhaus des Großvaters in den Harz bei Quedlinburg abzusetzen (1, S. 124). Seine Mutter Katharina, geborene Hoth (1874-8.5.1945) (Stammreihen), hatte in Zollchow zurück bleiben wollen. Das vormalige polnische Hausmädchen Christina kam nach dem Einmarsch der Russen noch einmal in den Harz, um sich noch ein Zeugnis ausstellen zu lassen, bevor sie in ihre Heimat in Polen zurück kehrte. So etwas also gab es auch. Martin von Katte erfuhr von ihr, was sich nach der Besetzung in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1945 durch die Rote Armee (s.a. 4) in Zollchow zugetragen hatte (1, S. 156):

Christina brachte Nachricht vom Tode meiner Mutter am 8. Mai; Christina berichtete zögernd, der Reihe nach. Wie die alte Dame am Fenster stand, als die beiden Granaten in unser Hausdach schlugen und auch wie unsere Hofrussen Abschied nahmen. (...) Des Nachts rollten die Sowjetpanzer durch das Dorf. Denunziert wurde nach Gut- und Schlechtdünken, dazu genügen wenige Personen. Den Herrn Bauernführer führte man ins Spritzenhaus; nach schwerer Folterung wieder freigelassen, wankte er über die Straße zurück ins Haus und erschoß seine schöne, schwer verletzte Frau und seine Kinder, ehe er die Flinte gegen sich selbst richtete. Daraufhin haben auch seine Schwiegereltern, die um zwei Hofstellen weiter wohnenden würdigen Windmüllersleute, ihr Leben beschlossen.

Diese Schwiegereltern waren das Ehepaar Schwarzlose (2). Sie haben sich in einer nahegelegenen Schonung an Bäumen aufgehängt. Alles das geschah am 7. Mai 1945. Und all das erinnert sehr an das Schicksal der Familie Zander, die sich vier Tage später in Nitzahn das Leben nehmen sollte (4). Von diesen Schicksalen wurde in der Bahnitzer Familie Bading, in der schon manches aus dem Erleben des Mai 1945 sehr genau erzählt wurde (4), nie so erzählt, daß das Angehörige der Enkelgeneration mit Bewußtsein wahrgenommen hätten. Es war wahrscheinlich in den Erzählungen schon präsent, wurde aber nur so angedeutet, daß es die Enkel gar nicht in seinen furchtbaren Dimensionen mitbekommen haben. Für diese waren auch die örtlichen und verwandtschaftlichen Verhältnisse zwei Generationen vor ihnen zu verwirrend, um für solche Andeutungen Interesse zu entwickeln.

Jedenfalls muß der Autor dieser Zeilen erst im Dezember 2017 diese Erinnerungen Martin von Katte's in die Hand bekommen, um zu erfahren, was die beiden vorigen Generationen in der Familie als traumatischstes Erleben offensichtlich mehr beschwiegen haben als daß sie darüber redeten. Oma Johanna Bading (1911-1984), als Bleis geboren in Zollchow, hatte sich mit ihren Kindern noch am 6. Mai in Zollchow befunden, wo sie mit vielen anderen Zollchowern sich in der Nacht zuvor im Wald eingegraben hatte (4). Sie fuhr aber noch am gleichen Tag mit dem Pferdefuhrwerk zurück ins ebenfalls von der Roten Armee besetzte Bahnitz (4). So wird sie von dem Schicksal ihrer angeheirateten Verwandten und der alten Gutsherrin in Zollchow auch erst Tage oder Wochen später erfahren haben zusammen mit so vielem anderen, was man in dieser Zeit erlebte und erfuhr. Von  so vielen Dörfern hörte man ja ähnliches. Vielleicht auch erst fünfzig Jahre später stand in der Zeitung lesen, welche schrecklichen Ereignisse sich etwa in dem Dorf Mögelin südlich von Rathenow ereigneten. So auch in Zollchow auf der anderen Seite der Havel. Martin von Katte schreibt weiter (1, S. 156f):

Den Gastwirt, der, im Verdacht, Zigaretten verschoben zu haben, Todfeinde hatte, führte man großartig vor das Kriegerdenkmal und erschoß ihn. Christina nannte noch andere, die in jenen Tagen Abschied nahmen.

Bei dem Gastwirt handelte es sich um Alwin Rahne (2). Martin von Katte's 72-jährige, schwerhörige Mutter sei ihres Hauses verwiesen worden, habe im überfüllten Haus des Gutsverwalters John gewohnt, habe im Garten Maiblumen gepflückt und diese in die Häuser der Bauern auf die Tische gelegt. Womöglich blieb ihr nicht mehr zu tun, da es auch kein ordentliches Begräbnis für die vielen ums Leben gekommenen Menschen allen Alters und Geschlechts gab in jenen Tagen:

Am dritten Tag, dem Dienstag, sah man die alte Dame zur Grille gehen wie seit Jahren zu gewohnter Stunde im gewohnten Lodenmantel (...) zwischen den frischen Schützenlöchern hindurch - nur daß sie einige Male stehen blieb und auf das Dorf zurück blickte.

"Grille" ist ein Ortsteil von Zollchow, der von der Familie von Katte im 19. Jahrhundert als Schäferei begründet wurde.***) Auf dem Grab ihres Ehemannes habe sie sich dann das Leben genommen. In ihrer Manteltasche habe sich ein Brief gefunden, der mit den Worten begann:

"Ich kann nicht mehr leben in diesem geschändeten Haus, ich helfe mir selbst."

Nach dem Freitod ihres Bruders Otto Bading und seiner Familie war nun Maria Hufschläger (gest. 2002) Hoferbin. Da der Hof aber über 60 Hektar Land besaß, wurde das Land noch im Sommer 1945 im Rahmen der Bodenreform eingezogen - ebenso wie das Gutsland von Katte und das Land des Grafen von der Recke (3, S. 23), der das Jagdschloß gekauft hatte. Maria Hufschläger wurde also sehr frühzeitig enteignet. Es liegen noch viele ihrer Eingaben vor, in denen sie gegen diese Enteignung in den Jahren 1945 bis 1948 Einspruch erhob, und erneut 1990 - immer ohne Erfolg. Ihre Familie und ihre beiden Kinder blieben in Zollchow wohnhaft bis nach 1990 ("Tante Mariechen Hufschläger").

Die Erinnerungen des Martin von Katte

In den Erinnerungen des Martin von Katte (1896->1987) finden sich auch sonst wertvolle Angaben zur Geschichte des Dorfes Zollchow und seiner Bauernfamilien während der 1930er und 1940er Jahre (1). Überhaupt lernt man in ihnen besser die Lebensverhältnisse in dieser Gegend kennen, insbesondere aus Sicht einer alt eingeborenen Adelsfamilie.

Einstweilen ist uns ansonsten über die Zollchower Badings nicht sonderlich viel bekannt. Der Hof dort hatte 66 Hektar Land, während der Bahnitzer Hof 44 Hektar hatte. Dementsprechend gab es schon während des Ersten Weltkrieges auf dem Bading'schen Hof in Zollchow 30 Kriegsgefangene. Zum Vergleich: auf dem Gutshof von Katte gab es 16 und auf dem Forsthof des Gutes von Katte gab es 13 (2). Ähnlich könnte es dann im Zweiten Weltkrieg gewesen sein, so daß der Hofinhaber, der zugleich Ortsbauernführer war, natürlich für viele Kriegsgefangene eine besondere Bedeutung gehabt haben wird in Zollchow. 

Während des Ersten Weltkrieges waren Otto Bading aus Zollchow (Abb. 1 oben rechts) und ein Wilhelm Bading aus Zollchow als Soldaten eingezogen, ebenso wie der Bahnitzer Vetter Gustav Bading und ebenso wie in Zollchow der Gutsbesitzer Georg von Katte und sein Sohn Martin von Katte (1896->1987) (2). Ebenso auch der spätere Zollchower Schwiegervater des Bahnitzer Otto Bading, nämlich Wilhelm Bleis. Martin von Katte kehrte als schwer verletzter Leutnant a. D. der Fliegertruppe aus dem Krieg nach Hause. Dort lebte er anfangs unter verarmten Verhältnissen (1). Der Forsthof des Gutes hatte verkauft werden müssen.

Der "jüngere" Zollchower Otto Bading heiratete - vielleicht schon in den 1920er Jahren - eine Helene Schwarzlose aus Zollchow, die dort nur zwei Höfe weiter aufgewachsen war. Das Ehepaar hatte zwei Kinder. Der Bahnitzer Vetter und Namensvetter Otto Bading (der Opa des Autors dieser Zeilen) heiratete 1932 Johanna Bleis aus Zollchow (5), die er vielleicht bei einem Verwandtenbesuch oder auf einer Familienfeier seiner Zollchower Verwandten kennengelernt hatte.

Über den Zollchower Gutshof wird berichtet (2):

Der Gutshof lag an der Nordostecke des Dorfes und war durch eine höhere rote Ziegelmauer vom Umfeld getrennt. Durch zwei Tore kam man auf die Anlage; der Hauptzugang erfolgte vom Ort aus; über das zweite Tor hinter den Viehställen zur Straße nach Vieritz am Kriegerdenkmal hin erreichte man kürzer die Grille*). (...) Erst 1926 übernahm Leutnant Martin von Katte das ganze Gut wieder.

Martin von Katte lebte geistig in den Traditionen seiner Vorfahren und im Adelsbewußtsein der Familie von Katte, die auch preußisches Offiziersbewußtsein mit einschloß (1).

Martin von Katte brachte einen Hauch von "großer Literatur" nach Zollchow

Im Zweiten Weltkrieg tat er beispielsweise Dienst in Finnland und lernte dort den General Dietl (1890-1944) (Wiki) persönlich kennen, von dem er mit großer Hochachtung schreibt. Auch fühlte sich Martin von Katte der Pflege der deutschen Sprache verpflichtet und veröffentlichte Gedichte. Aufgrund solcher Interessen und adliger, verwandtschaftlicher oder gutsnachbarlicher Verbindungen war er befreundet, bekannt oder verwandt mit vielen Menschen aus dem damaligen Literaturleben Deutschlands. In seinen Erinnerungen (1) werden Namen genannt wie Rudolf Alexander Schröder, Börries von Münchhausen, Karl Wolfskehl, Friedrich Franz von Unruh, Hermann Graf von Keyserling, Ernst Jünger und Wolf Jobst Siedler (s. a. Amazon 1978, Der Spiegel 1982, Die Welt 2000, PNN 2004). Von diesen weilten auch viele zu Besuch in Zollchow, besuchten als Taufpaten der Kinder Martin von Kattes die Zollchower Kirche.

In seinen Erinnerungen (1) erwähnt Martin von Katte nun auch mehrmals den Zollchower Bauern und Ortsbauernführer Otto Bading. Von Katte's zweiter Sohn "Petz" (Bernhard Heinrich von Katte), der 1941 vier Jahre alt war, der aber schon mit 10 Jahren 1947 an Diphterie sterben sollte, ging damals vom Gutshaus aus selbständig auf Wanderschaft im Dorf (1, S. 38f):

Mit der Zeit kam er in die meisten Häuser, hielt Vorsprache auch in den vornehmsten der Bauern Witthuhn, Wenzlau, Hübner und Bading. Bisweilen bekamen wir frohe Botschaft: "Gestern war Petz bei uns, das ist aber einer!"

Es wird auch über den "Bauer Berendt, genannt der Löwe," berichtet, "dessen Haus seit zwei Generationen der Gutsherrschaft gram war", und der wegen eines zu flickenden Loches im Zaun angemahnt worden war, das neben den Hausgänsen auch der kleine Petz benutzen würde:

Der Weißbärtige brauste nicht auf, sondern murmelte einlenkend: "Der kann auch vornherum kommen."

Über den Gutsnachbarn Günther von Kluge (1882-1944) (Wiki) aus Böhne wird von Martin von Katte für die Jahre 1942 oder 1943 berichtet (1, S. 105):

Eines Vormittags sagte sich der Nachbar aus Böhne an. Herr von Kluge kommt über die grüne gemeinsame Grabengrenze. Er ist Oberbefehlshaber des Heeres Mitte im Osten, doch jetzt geht es um komplizierte Fragen der Wassergenossenschaft. Ich bat unseren Schriftführer Otto Bading herüber, der zugleich "Ortsbauernführer" ist. Der meldet sich nach klärender Besprechung mit den Worten ab: "Herr Feldmarschall, wat wärt'n nu? Wi mütten uppassen." Auch mit dem Kreisbauernführer Hermann Mosow in Tuchheim (...) bestand Einvernehmen. (...) Bei einer Begegnung in der Waldstille (...) bremste er scharf, sprang aus dem Auto, um meine Hand vertraulich zu nehmen: "Katte, jlaubste noch?" Ein klar zweideutiges "Ja". Wortlos aufmunternder Abschied.

Hier ging es wohl um den Glauben an den "Endsieg". Der war für den Bahnitzer Otto Bading ja schon spätestens 1941 fragwürdig geworden. Dieser war 1941/42 seiner Ämter enthoben und zum Kriegsdienst eingezogen worden.

Nackter Materialismus nach 1945

Das Gutshaus von Katte wurde 1948, das Jagdschloß, bzw. Forsthaus von Katte, das einen Kilometer südlich des Dorfes in schönem Mischwald lag, wurde 1949 abgerissen (3, S. 28). Liest man die Erinnerungen des Martin von Katte (1) und hält sie zusammen mit so vielen anderen Erinnerungen von Angehörigen des ostelbischen Adels aus jener Zeit, wird einem erst bewußt, wie viel Kultur und Kulturbewußtsein damals insbesondere mit den märkischen Adelsfamilien vernichtet oder vertrieben worden ist. 

Fast möchte man sagen: Das Land Brandenburg hat mit ihnen sein Gesicht verloren. Und dieses Gesicht ist auch nach 1990 nicht wiederhergestellt worden, da die Enteignungen ja nicht rückgängig gemacht worden sind.

Auch in Zollchow gingen zudem viele der großen Bauern 1953 in den Westen. Auch diese Abwanderung der großen Bauern bedeutete eine starke Gesichtsveränderung für die Länder östlich der Elbe. Die Menschen haben sich in vierzig Jahren Kommunismus in ganz andere Lebensverhältnisse hinein gefunden als im Westen. Jahrzehnte lange Gewöhnung nutzt die Seelen ab, ob man unter dem kapitalistischen Materialismus des Westens oder unter dem kommunistischen Materialismus des Ostens lebte. 

Und bis heute wird über das erschütternde Geschehen bei Kriegsende mehr geschwiegen als gesprochen. Dabei hilft Austausch innerhalb der Gemeinschaft und gegenseitige Anteilnahme bei der Trauma-Verarbeitung (6).

_____________
*) Bei den Zollchower Verwandten handelte es sich um den Halbbruder, bzw. den Vetter der Bahnitzer Badings. Zur Erläuterung dieser Verwandtschaft: Der Großvater von Otto Bading (1906-1979) in Bahnitz, der 1901 gestorbene Friedrich Wilhelm Bading, hatte nach dem Tod seiner ersten Ehefrau ein zweites mal geheiratet. Aus dieser Ehe war Otto Carl Friedrich Bading (1873->1927) hervorgegangen, der die Tochter des Bauern Wernicke in Zollchow geheiratet hatte und der dort den 66 Hektar großen Hof der Wernickes übernommen hatte. 1927 ist dieser - vermutlich zusammen mit seinen Kindern und Enkelkindern - als älterer Herr auf einer Familienfotografie oben rechts zu sehen (Abb. 1), die aus Anlaß der Konfirmation der zweijüngsten Tochter Elfriede seines Halbbruders Gustav Bading (1870-1941) (Abb. 1 oben rechts) in Bahnitz entstand. - Dieser Zollchower Otto Bading der Ältere hatte zwei Kinder: Otto Bading und Marie, spätere in Zollchow verheiratete Hufschläger. Womöglich sind diese auch noch auf der Familienfotografie in Abb. 1 zu sehen, aber sie können einstweilen nicht sicher zugeordnet werden. 1927 hatte der Bahnitzer Otto Bading als Arbeiter in Sachsen die NSDAP kennen gelernt und war Mitglied in ihr geworden. Vermutlich ist auch sein Vetter und Namensvetter in Zollchow um diese Zeit in die NSDAP eingetreten.
**) Zur Konfirmation von Elfriede Bading (spätere nach Ingolstadt verheiratete Puhlmann - Tante "Elfriedchen", geboren 1913), die vorne Mitte-links neben ihrer Schwester Emma Lindenberg (Wusterwitz) steht, war viel Verwandtschaft in Bahnitz vor der Haustür von Hof Nr. 5 versammelt und ließ sich fotografieren: Tante Emma (Lindenberg, Wusterwitz) ist in der vordersten Reihe die dritte von links, ihre Schwester Elfriede die vierte von links. Ganz rechts in der vordersten Reihe steht ihrer beider Schwester Lucie. Und in der Mitte zwischen ihnen ihr Bruder Otto. Die Mutter von den vieren, Emma Bading, geborene Mohr, steht hinter Elfriede, der Vater der vier, Gustav Bading, steht ganz oben rechts. Neben ihm links steht sein Halbbruder, der Zollchower Otto Bading. - Dem Alter nach könnte der junge Mann rechts der Konfirmandin der Sohn des Zollchower Otto Bading, wiederum ein Otto Bading sein. Vor ihm könnte seine Frau Helene (geb. Schwarzlose) und ihre zwei Kinder stehen, rechts hinter ihm seine Mutter (geb. Wernicke). (Der alte Mann mit Bart ganz rechts war wohl der Stiefvater von Emma Bading, geb. Mohr, mit Familiennamen Meinecke aus Bahnitz.)
***) Jemand sagte: "Ach, das ist auch wieder so eine Grille von dem von Katte." Und dieser gab daraufhin der Schäferei diesen Namen (1).
_________________________________________________
  1. von Katte, Martin: Schwarz auf Weiß. Erinnerungen eines Neunzigjährigen. Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 1987
  2. Geffert, Hans-Joachim: Zollchow - Eine unvollständige Chronik. Nach Notizen der Lehrer Fritz Geffert und August Brand. 2011, http://www.milow.de/verzeichnis/visitenkarte.php?mandat=187048 
  3. Anft, Gisela: Chronik Zollchow, 1993, http://www.milow.de/verzeichnis/visitenkarte.php?mandat=187048 
  4. Bading, Ingo: Der 4. Mai 1945: Das Kriegsende in den Dörfern des Havelbogens Möthlitz, Kützkow und Bahnitz - Eine regionale Studie zu den letzten Kämpfen des Zweiten Weltkrieges. Auf: Studium generale, 7. August 2011, http://studgendeutsch.blogspot.de/2011/08/der-4-mai-1945-das-kriegsende-in-den.html
  5. Bading, Ingo: Bauern, Büdner, Häusler, Grenadiere und Kuhhirten - Meine Oma und ihre Vorfahren aus dem Dorf Zollchow im Havelland. Preußenblog, 30. September 2017, http://preussenlebt.blogspot.de/2017/09/bauern-budner-hausler-und-kuhhirten.html 
  6. An evolutionary theory of moral injury with insight from Turkana warriors. Matthew R. Zefferman, Sarah Mathew. In: Evolution and Human Behavior, Available online 16 July 2020, https://doi.org/10.1016/j.evolhumbehav.2020.07.003, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1090513820300829

Samstag, 23. Dezember 2017

Der Amalthea-Garten in Neuruppin

Ein edler Rokoko-Garten im Sinne Friedrichs des Großen sieht anders aus als die heutige Gestaltung des Gartens

1758, mitten im Siebenjährigen Krieg, starb Wilhelmine von Bayreuth (1709-1758)(Wiki), die Lieblingsschwester Friedrichs des Großen. Nachdem der Krieg im Jahr 1763 endlich hatte beendet werden können, ließ Friedrich der Große im Jahr 1768, zehn Jahre nach ihrem Tod, in der Nähe des von ihm bis 1769 errichteten Neuen Palais (Wiki) im Schlosspark von Sanssouci einen Freundschaftstempel errichten zur Erinnerung an seine Schwester. Dieser steht dort heute noch so wie damals. Er errichtete diesen Tempel in Erinnerung an glückliche Jugendjahre in Neuruppin (Wiki):

Als Vorbild für den Freundschaftstempel diente der Apollotempel im Amaltheagarten in Neuruppin. Das Erstlingswerk des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff entstand 1735 in einem Zier- und Nutzgarten, den Kronprinz Friedrich an seinem Wohnsitz in der brandenburgischen Stadt anlegen ließ, wo er von 1732 bis 1735 Befehlshaber eines Regiments war. Der Apollotempel war ein offener Rundtempel, der jedoch 1791 durch Ausmauerung der Säulenzwischenräume geschlossen wurde. Im August 1735 schrieb Friedrich an seine Schwester Wilhelmine: „Das Gartenhaus ist ein Tempel aus acht dorischen Säulen die eine Kuppel tragen. Auf ihr steht die Statue des Apollos. Sobald es fertig ist, werden wir Opfer darbringen - natürlich Dir, liebe Schwester, der Beschützerin der schönen Künste.“
Abb. 1: Freundschaftstempel, Sanssouci, Potsdam
(Fotograf Paul Odörfer, Herkunft: Wiki)

Der Apollotempel des Kronprinzen in Neuruppin war also, wie im Zitat eben erwähnt, schon fünf Jahre nach seinem Tod baulich stark verändert worden und ist es bis heute geblieben. Man versteht nicht, warum diese bauliche Veränderung nicht wenigstens heute, anläßlich der gründlichen Renovierung dieses Tempels wieder rückgängig gemacht worden ist. 

Wer sich in Neuruppin erinnern will an die Art, wie der dort zu besichtigende Apollotempel von seinem Erbauer eigentlich gedacht gewesen ist, der ist gut beraten, den nachmals errichteten Freundschaftstempel in Sanssouci in Erinnerung zu behalten.

Abb. 2: Der Plan von Knobelsdorff für den Apollotempel in Neuruppin, 1734
(Herkunft: Wiki)

Die Stadt Neuruppin in der Prignitz, eine Autostunde nördlich von Berlin auf dem Weg nach Hamburg, war zu Friedrichs Zeiten und ist bis heute von einer mittelalterlichen Stadtmauer aus Backsteinen umgeben. Dieser Stadtmauer vorgelagert waren zu Friedrichs Zeiten und sind bis heute zwei parallel verlaufende Wassergräben (1), die mit hohen Bäumen bewachsen waren - ebenfalls damals wie heute. Der dadurch entstandene fast geschlossene Grünstreifen schloß und schließt sich zu weiten Teilen rund um den mittelalterlichen Stadtkern.

Ab 1732 ist Kronprinz Friedrich, der nachmalige preußische König Friedrich der Große, von seinem Vater zum Kommandeur des in Neuruppin stationierten Regiments ernannt worden und zog in diese Stadt.

Der Kronprinz hatte ein Haus ("Palais") im nördlichen Teil der mittelalterlichen Stadt bezogen, in der Nähe des nach Norden gehenden Rheinsberger Tores. Der Garten des Palais stieß an die Stadtmauer. Der Kronprinz ließ sich eine Pforte in die mittelalterliche Stadtmauer schlagen, damit er nach Dienstschluß vor derselben unter den Bäumen spazieren gehen konnte. Zu jener Zeit wollten die Neuruppiner gerade damit beginnen, diese Bäume über den genannten Wassergräben zu fällen. Sie blieben auf Wunsch des Kronprinzen erhalten. Und an diesen Wunsch hat  man sich in Neuruppin bis heute - zum Wohle der Stadt - gehalten.

Dem Kronprinzen ist es also zu danken, daß dieser Grünstreifen rund um die Stadt bis heute erhalten geblieben ist. Allerdings ist nicht erhalten geblieben die damalige Ruhe. Der Grünstreifen wird in Teilen von einer viel befahrenen Straße begleitet. Auch bietet sich nicht mehr wie früher ein Ausblick mehr hinaus in die Landschaft an. Denn hinter der Straße kommen heute erneut viele der Vorstadt, die sich heute bis zum Bahnhof und darüber hinaus zieht.

Abb. 3: Erläuterungstafel im Amaltheagarten in Neuruppin

Damals gefiel dem Kronprinzen die Gegend vor der Stadtmauer so gut, daß er vor der Südwestecke derselben ein größeres Gartengrundstück erwarb und zwar dort, wo die Mauer und der sie begleitende Stadtgraben seine Richtung wechselten von Südwesten nach Südosten, wo er also von der einen zur anderen Richtung abknickte.*) An dieser Ecke ließ er zwischen den beiden Stadtgräben einen Hügel aufschütten und errichtete auf diesem Hügel den schon genannten antiken Apollo-Tempel.

Die gestalterische Idee für den Amalthea-Garten

Wenn man eine Radierung von A. W. von Knobelsdorf von dem von ihm errichteten Apollo-Tempel inmitten des von ihm und dem Kronprinzen angelegten Amalthea-Gartens sieht (womöglich auch erst als Entwurf angefertigt) (Abb. 4), bekommt man eine Ahnung davon, welche gestalterische Idee der damaligen Gartenanlage zugrunde gelegen haben könnte. Nämlich die einer hügeligen, "wildromantischen" Landschaft. Diese war auch inmitten des hier gelegenenen Richtungswechsels ("Knicks") der Stadtwällen gut anzulegen und diese Wälle waren an dieser Stelle gut dafür zu nutzen. Und indem man von dieser gestalterischen Idee Kenntnis nimmt, macht es für einen zum ersten mal wirklich Sinn, daß sich der Kronprinz ausgerechnet gerade diese Ecke ausgesucht hatte, um einen Garten anzulegen: Die Wälle sollten eine hügelige Landschaft vorstellen. 

Abb. 4: Radierung A. W. von Knobelsdorffs - Amalthea-Garten, 1730er Jahre (aus 3, Abb. 7)

Die heutigen Gartengestalter glauben trotz eifrigster historischer Studien die früheren Gartenanlagen, die der Kronprinz hatte anlegen lassen, auch seinen Zier- und Nutzgarten nicht mehr rekonstruieren zu können. Steht man allerdings heute auf dem Hügel vor dem Tempel und blickt von dort nach Südwesten auf den Garten hinunter, so kann man sich vor seinem inneren Auge doch vergleichsweise leicht einen sich dort entfaltenden Rokoko-Garten hinzaubern nach der Art wie er später ebenfalls in Sanssouci oder anderwärts Verwirklichung gefunden hat. Man denke auch an den Blick vom Schloß Sanssouci zum wildromantischen Ruinenberg (Wiki) daselbst, um eine Vorstellung von der gestalterischen Idee zu bekommen.

Dabei ist womöglich zu berücksichtigen, daß der Kronprinzen-Garten nicht die Länge des heutigen Gartens hatte. Denn die heutige diesen Garten begrenzende 1787 angelegte Straße (Präsidentenstraße) verläuft womöglich mehr zurück verlegt als die historische Straße vor der Stadtmauer (1). Das innere Auge sieht vor sich vor allem parallele, abgestufte Reihen und dann auch - wohl vor allem über die heutige Gartenmauer Richtung Nordwesten hinausgehend und wie vom Kronprinzen beschrieben - Beete, in denen Gemüse und Obst angebaut worden ist. Im Hintergrund Weiden mit Kühen.

Wie trotz der vielen großen Bäume in der Radierung von Knobelsdorff, die so viel Schatten geworfen haben, die hier angelegten Beete mit Melonen, Weintrauben, Kirschen und Spargel genug Sonne bekommen haben können, muß auch gefragt werden. Aber man weiß ja von den anderen Gartenanlagen des großen Königs und auch sonst, wie sehr er die Sonne und das Licht liebte. Das innere Auge sieht also vor sich wechselhafte, mal wild romantischen, mal im Rokoko-Stil eingegten sonnigen, heiteren, lichtdurchfluteten Garten.

Abb. 5: Der Amaltheagarten in Neuruppin,
der in seinem jetzigen Zustand eine fürchterliche Halbheit repräsentiert

Die heutigen großen Umrisse der Gestaltung des Gartens stammt von der Neuruppiner Unternehmer- und Künstlerfamilie Gentz**). Sie weicht in ihrem ganzen Charakter allzu deutlich von der Gestaltung eines Rokoko-Gartens ab wie er von dem Kronprinzen selbst hatte gestaltet sein können. Da aber die Künstlerfamilie Gentz so viel Bausubstanz in Form von Gebäuden und in Form der Gartenmauer schuf und da man - vielleicht etwas gar zu phantasielos? - glaubte, keine rechten und konkreten Anhaltspunkte zu finden zur Rekonstruktion des Gartens wie er zu Zeiten des Kronprinzen bestanden hat, hat man sich nicht dazu durchringen können, einen in seiner Gestaltung einigermaßen einheitlichen Rokoko-Garten wieder zu konstruieren wie es allein der Erinnerung an den großen König und die weltgeschichtliche Epoche, die er prägte, könnnte als angemessen empfunden werden.

Man muß sich doch schließlich klar machen, daß dieser Garten heute niemals so viel Aufmerksamkeit erhalten würde, wenn man sich in ihm nur an die Künstlerfamilie Gentz erinnern könnte. Dann hätte er höchstens stadt- oder regionalgeschichtliche Bedeutung. Allein die Tatsache, daß hier eine Persönlichkeit vom Format des späteren Königs Friedrichs II. einen Garten mit Tempel angelegt hatte, gibt dieser Stätte die Bedeutung.

Und wenn es denn keine konkreten historischen Anhaltspunkte mehr gibt, wie der Garten des Kronprinzen gartenarchitektonisch ausgesehen haben könnte, so besteht doch zumindest ein großes Interesse daran zu erfahren, wie man diesen Garten rekonstruiert hätte, wenn man eben nicht auf die Neugestaltungen und Überbauungen durch die Stadtplanung von 1787 und durch die Künstlerfamilie Gentz hätte Rücksicht nehmen müssen oder auch nur: glaubte Rücksicht nehmen zu müssen. Gibt es dazu gestalterische Ideen? Es hätte dann ein Einfühlen stattfinden müssen in die Formensprache der Gartengestaltung zur Zeit des Kronprinzen. So schwer kann das doch für Gartenbauhistoriker nicht sein. Der gegenüber dem heutigen Garten andere Grundriß kann doch offenbar konstruiert werden. Und dann kann sich doch vor dem inneren Auge der entsprechende Garten entfalten.

Uneinheitlichkeit und Unruhe der heutigen Gartengestaltung

Eines ist klar: Vor allem durch die in den heutigen, von der Familie Gentz ummauerten Garten "hineinragenden" Stadtgräben - in denen zudem im 19. Jahrhundert von biederen Bürgern eine Kegelbahn angelegt gewesen war, die man im übrigen natürlich heute ebenfalls noch glaubt, in Erinnerung behalten zu müssen - erhält der Gesamteindruck des Gartens eine Unruhe und eine Uneinheitlichkeit, wie man sie nur schwer mit dem ganzen Wesen des Kronprinzen und des nachmaligen preußischen Königs glaubt, vereinen zu können. Kurz gesagt: Man findet Friedrich den Großen in dem heutigen Garten gar nnicht wieder. Sogar sein Apollo-Tempel bleibt weiter vermauert! Noch nicht einmal das einzige originale Bauwerk Friedrichs an diesem Ort wurde also in den Originalzustand zurück versetzt. Alles atmet "Gentz".

Diese heutige Unruhe mag der "Künstlerfamilie" Gentz nicht störend gewesen sein. Demjenigen, der sich an den heiteren Kronprinzen der Jugendjahre zurück erinnern möchte, erleichtert sie dieses Vorhaben kaum. Man bleibt auf Rheinsberg angewiesen, wenn man sich architektonisch und gartenarchitektonisch an die Zeit des Kronprinzen erinnern möchte.

Man wird doch annehmen dürfen, daß die Stadtgräben, die zu des Kronprinzen Zeiten an des Kronprinzen Garten endeten, zumindest durch Hecken und Büsche blickdicht vom übrigen, von ihm angelegten Garten getrennt waren. Denn die Unruhe, die schon allein von diesen Gräben heute ausgeht, weil sie in die Gentz'sche Gartenanlage und ihre Ummauerung in ihren Endteilen mit einbezogen sind, paßt doch gar nicht zu der Ruhe eines Rokoko-Gartens im Sinne des Kronprinzen. Das kann man sich kaum vorstellen. Bekanntlich sind auch in Rheinsberg und in Sanssouci Wassergräben oft blickdicht von anderen Gartenbereichen getrennt. Das fiel ja den Gartengestaltern des Rokoko auch nicht so schwer.

Womöglich waren zu des Kronprinzen Zeiten die Gräben auch viel "wilder" mit Bäumen überwachsen als das heute der Fall ist, wo man in den Gräben selbst keine Bäume mehr wachsen läßt. Dadurch ergibt sich womöglich eine "Künstlichkeit", die sich von dem "Wildromantischen" entfernt, das dem Kronprinzen als gefällig erschienen haben mochte an diesen bewaldeten Wällen. Ob dieser Frage schon einmal nachgegangen worden ist? Dieser Gedanke kommt uns beim Anblick der Radierung von Knobelsdorff (Abb. 4).

Der jetzige Zustand des "Tempelgartens" stellt etwas "Halbes" dar. Es fällt einem - anders als in Rheinsberg und Sanssouci - schwer, sich vor Ort in das heitere, lebensästhetische Wollen des Kronprinzen zurück zu versetzen. Hören wir deshalb noch über einiges historisch Bezeugte über den Aufenthalt des Kronprinzen in Neuruppin (Tempelgarten.de):

Am 28. Juni 1732 rückte der Kronprinz in Neuruppin ein. Er wurde feierlich und festlich von den Bürgern der Stadt begrüßt. Eine königliche Order seines Vaters hatte dafür gesorgt, daß zuvor der Abputz der Häuser vorgenommen und der Kot aus der Stadt geschafft wurde. Auch den Militärgalgen auf dem Neuen Markt, wo man die Deserteure zu hängen pflegte, hatte man aus der Stadt entfernt. Gleich nach seinem Einzug in Neuruppin ließ Friedrich auf den Wallanlagen seinen „Amalthea-Garten“ anlegen, der zunächst vor allem als Nutzgarten diente, in dem u.a. Spargel, Melonen, Weintrauben und Kirschen geerntet wurden. Sogar Milchwirtschaft und Hühnerzucht fanden Platz. Der Garten war aber auch Stätte der Kontemplation, musischer Darbietungen und nicht zuletzt Treffpunkt für geselliges Treiben mit den Offizieren. Amalthea ist jene griechische Nymphe, deren abgebrochenes Horn als Inbegriff für reichen Überfluss, als „Füllhorn“ gilt.
Im Jahre 1735 errichtete ein befreundeter, bis dahin eher als Maler in Erscheinung getretener junger Baumeister dort nach den Vorstellungen Friedrichs einen Apollo-Tempel, der (...) noch heute das Zentrum des Gartens bildet (...). Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff erhielt danach noch vielfach Gelegenheit, sich in Aufträgen für Friedrich auszuzeichnen: Unter anderen sind Sanssouci, die Lindenoper, die französische Kirche in Potsdam und der Neue Flügel des Schlosses Charlottenburg sein Werk. (...) Hier in Neuruppin begann der Kronprinz seinen Antimachiavell. Kurz vor seinem Umzug nach Rheinsberg im August 1736 eröffnete er die Korrespondenz mit Voltaire.

Ab 1853 wurde dieser Amalthea-Garten von Alexander Gentz nicht nur erworben, um das Andenken an den König Friedrich von Preußen zu ehren, sondern um den Garten in verunstalteter Form wieder herzurichten, wobei nur wenig originalen Erinnerungen an den preußischen König und die Gartengestaltung zu seiner Zeit übrig blieben. Die von Gentz aufgestellten barocken Figuren stammten zumeist aus Dresden. Immerhin waren sie zu Lebzeiten von Friedrich geschaffen worden.

Heute versucht man, an diesem Ort sowohl die von Gentz errichteten "Kleinodien orientalischer Baukunst" zu erhalten wie an den originalen Zustand des Amalthea-Gartens zur Zeit des Kronprinzen zu erinnern. Der Geist der Gentz'schen Bauten ist aber ein ganz anderer, gegensätzlicher als der Geist all dessen, was zunächst der Kronprinz und dann der König gestaltet hat.

Es ist bei der heutigen Gestaltung ein Mischmasch von Stilen heraus gekommen. Es fehlt eine einheitliche gestalterische Idee, die allem zugrunde liegt. Wäre es nicht besser, die Gentz'sche Gestaltung der Anlagen an anderem Ort neu aufzubauen (wenn sie einem denn so "kleinodienhaft" vorkommen) und die Örtlichkeit hier ganz nach dem Sinne der Gestaltung des Kronprinzen wieder herzurichten so weit das aufgrund der veränderten Straßenführung heute noch möglich ist? Dadurch würde doch wenigstens die jetzt fehlende Einheitlichkeit zurück gewonnen werden. 

 

/ Ergänzung um die Abb. 4 
und Ausführungen, die 
durch sie veranlaßt werden:
26.10.2021 /

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*) Nach dem großen Stadtbrand wurde an dieser Stelle die Stadtmauer verlängert und damit die Stadt vergrößert, sie knickt also heute nicht mehr an der früheren Stelle ab (1). Im Mauerwerk ist aber erkennbar, wo die ältere Mauer auf die jüngere Mauer stößt. Womöglich führte der Bau der neuen Stadtmauer auch über einen Teil des vorherigen friderizianischen Amalthea-Gartens. In jener Zeit war man ja auch so roh und mauerte die Zwischenräume zwischen den Säulen des Apollo-Tempel zu.
**) Der Neuruppiner Geschäftsmann Johann Christian Gentz (1794-1867) (Wiki), sowie seine Söhne, der Orient-Maler Karl Wilhelm Gentz (1822-1890) (Wiki) und der Unternehmer Ludwig Alexander Gentz (1826-1888) (Wiki).
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  1. Stadtbrand Neuruppin und Aufbauplan Neuruppin 1787. Spreevideo, 31.1.2016, https://www.youtube.com/watch?v=55kfscxtX-4
  2. Reyk Grunow: Tempelgarten wird völlig umgekrempelt. In: Märkische Allgemeine, 26.7.2016, http://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Tempelgarten-wird-voellig-umgekrempelt
  3. Dietrich Zühlke u.a.: Ruppiner Land. Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme in den Gebieten von Zühlen, Dierberg, Neuruppin und Lindow. Band 37 von "Werte unserer Heimat". Akademie-Verlag, Berlin 1981 (GB)