Unsere Vorfahren waren sangesfreudige Menschen.
Abb. 1: Familie Bading im Jahr 1917 - Gustav Bading (1870-1941), Emma Bading, geb. Mohr (1882-1968) mit ihren Kindern Emma (geb. 1904), Otto (1906-1979), Elfriede (geb. 1913) und Lucie (geb. 1916)*) |
Und sie erzählten sich auch gerne Geschichten. Wenn meine westhavelländische Großeltern-Generation von ihrer Jugend erzählte, wurde fast immer auch Singen, Tanz und Musik erwähnt. Meine Großtante Emma Lindenberg, geb. Bading (Abb. 1. oben links) hat mir einmal Ende der 1970er Jahre aus Wusterwitz in der damaligen DDR über ihre Jugend auf einem Bauernhof in Bahnitz an der Havel geschrieben (zit. n. Stgr2012):
Meine Kindheit war Arbeit. Bis 14 Jahren ging ich in die Schule. Als ich raus kam (1918), wurde hart gearbeitet. Die Arbeitskräfte und wir mußten arbeiten: die Kühe melken, schleudern, buttern, alles mit der Hand, wir hatten keine Maschinen, die Schweine füttern, Kartoffeln dämpfen für das Vieh, für Gänse, Hühner, Enten. Die wurden dann im Herbst geschlachtet und verkauft. Holz und Kohle reinholen, heizen. Im Winter wurde das Korn gedroschen, immer ein paar Stunden vormittags und nachmittags. Denn Geld wurde auch gebraucht und Futter brauchten wir für das Vieh auch. (...) Wir hatten noch keinen Fernseher noch Radio und haben gesungen aus voller Kehle.
Meine Oma (1910-1984) hat 1981 über ihre Kindheit in Zollchow aufgeschrieben (zit. n. Prl2017):
Unsere Kindheit war schön! Ich habe gerade einen Brief meiner Schwester Friedel in der Hand, sie schreibt, weißt Du noch ... Und Großvater Eggert, er besaß einen Schleppkahn, schipperte damit auf Elbe und Havel Frachtgut. Bis Hamburg kam er. Er konnte so viel Geschichten von seinen Fahrten erzählen. Wenn er bei uns war, fand sich auch die Jugend ein. Es dauerte nicht lange und er nahm sein Schifferklavier. Und während die Eltern und Freunde sich vor dem Haus auf der Bank unter der Linde von der schweren Arbeit ausruhten, tanzten die Jungen unter der Friedenseiche all die alten Volkstänze "Mutter Wisch", "Ich nahm die Brille von meinen Augen", "Ick sehe di", "Dreimal Samtband um Rock" oder wie all die alten Volkstänze hießen, bis mein Vater "Schluß" sagte. Am nächsten Tag früh um fünf Uhr begann ja die Arbeit wieder. Es waren schöne Jahre ...
Zu dem kurzen Liedchen "Ich nahm die Brille vor meine Augen" finden sich Belege. Als dessen Entstehungsjahre finden sich die Angaben 1924 (Volksliedarchiv) und 1930 (Schwaben-Kultur) (s.a. "Kinderspiele und Spiellieder", GB1979). Zu den anderen hier genannten "Tänzen" (?) finden sich zunächst keine Angaben. Dabei klingt doch zumindest "Dreimal Samtband um Rock" sehr spezifisch ... Es scheint sich aber doch mehr um Kinderlieder und -spiele gehandelt zu haben, von denen meine Oma berichtete.
Abb. 2: "Mein Herz, das ist ein Bienenhaus" (Postkarte, um 1898) |
Aus der Urgroßeltern-Generation des Verfassers dieser Zeilen hat sich überliefert, daß der Urgroßvater Gustav Hermann Otto Bading (geb. 1870 in Bahnitz; gest. 1941 in Bahnitz) (Abb. 1 oben rechts) in den 1890er Jahren seinen Vetter in Köln besucht habe und dort "mit der reichsten Jüdin Kölns" getanzt habe nach dem Schlager "Mein Herz, das ist ein Bienenhaus". In der mündlichen Familienüberlieferung war immer vom "Bienenkorb" die Rede, was zeigt, daß dieser Schlager lange wieder vergessen war. Aber dank Internet kann man ja dieser Angabe nun leicht nachgehen.
Der "Bienenhaus-Marsch" war schon 1860 von dem deutschböhmischen Kapellmeister und Komponisten Hermann Josef Schneider (1862 in Tepl, gestorben 1921 in Saaz) komponiert worden (GB) (DtLied). Sein Text lautet (s. Yt, 1930):
Mein Herz, das ist ein Bienenhaus,Die Mädchen sind darin die Bienen,Sie fliegen ein, sie fliegen aus,So wie es ist im Bienenhaus.Du meines Herzens KlauseRefrain: Holdria holdrioHoldria holdrioHoldria ho, Holdria ho,Holdria ho, Holdria ho.Sie fliegen aus, sie fliegen ein,Die lieben kleinen Bienen,Und bringen auf den Lippen fein,Den süßen Honig mir hereinIn meines Herzens Klause.RefrainDoch eine ist die Königin,Sie liebe ich vor allem,Und wenn sie mit mir ziehen will,Dann blieb ja keine andre drin.In meines Herzens Klause.RefrainUnd wenn ihr Auge trübe blickt,Und geht zum Weinen über,Dann, süße Königin, vergib,Ich hab' ja alle Mädchen lieb.Doch dich, dich liebe ich vor allen.Refrain
Wirklich populär scheint dieser Schlager aber in ganz Deutschland erst im Jahr 1898 geworden zu sein (s. Yt, 1930). Zahlreiche Bildpostkarten erschienen in diesen Jahren mit Motiven zu diesem Lied (s. Abb. 2). Sie zeigen ebenfalls auf, wie populär es war. Und auf Google Bücher finden sich zahlreiche Bezugnahmen auf diesen "Gassenhauer" in der Literatur jener Jahre und später. Ein Willi Ostermann in Berlin parodierte das Lied sogar schon im selben Jahr mit dem Text (Kellendr):
Mein Herz, das ist ein Bienenhaus,so hört man nur noch auf den Straßen.Man lärmt's und singt's in jedem Hausdas schöne Lied vom Bienenhaus.In jeder DamenkapelleAuch singt die GroßmamaHoldria holldriaUnd alte Jungfrau'n rufen's aus:Mein Herz, das ist ein Bienenhaus!
Um 1900 entstand der Wandervogel. Und zur gleichen Zeit, 1901, schrieb etwa ein Wilhelm Teichmann in einem Aufsatz zum Thema "Unsere elsässischen Volkslieder" ("Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens") (GB):
Wo ist das Volkslied zu Hause? (...) Steigen wir etwas weiter hinab zu den unteren städtischen Schichten. An Sangeslust fehlt es ihnen durchaus nicht. Was uns aber in der Stadt in die Ohren tönt, ist mehr der Gassenhauer. Von der Bühne, oft auch nur aus dem Tingeltangel unter die Leute geworfen, werden Worte und Weisen begierig aufgefangen, eine Zeitlang von jedermann gesungen und gepfiffen, - und dann wieder vergessen. Welcher ordentliche Gassenjunge pfeift jetzt noch: Mein Herz, das ist ein Bienenhaus - ? Hinter diesem von der jeweiligen Mode getragenen Singsang tritt das eigentliche Volkslied in der Stadt sehr zurück ...
1898 war mein Urgroßvater 28 Jahre alt, von daher paßt die Familienüberlieferung ganz gut. Aber ansonsten kann er sich das gut und gerne auch nur ausgedacht haben, der leichtfertige Vogel, um all die Frauen zu erheitern, wenn sie beim Rübenhacken auf dem Feld versammelt waren. Daß er solche und andere Dinge beim Rübenhacken erzählt hätte, wird zumindest in der "Familiensaga" überliefert.
Sogar daß dieser Gassenhauer auch unter den "oberen Zehntausend" populär war, ist belegt. Etwa durch eine Illustration von Ferdinand von Reznicek mit dem Titel "Der Frahsee (La Française) / Mein Herz, das ist ein Bienenhaus" (Meistdr).
Wie auch immer. Schietegal! Unsere Vorfahren, das waren sangesfrohe Menschen. Und ihrem Gustav wird seine Emma (s. Abb. 1) schon Mohres gelehrt haben, was all die lieben Bienen betrifft!
Soweit zum Volksleben in Brandenburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine weitere Großmutter des Verfassers dieser Zeilen (1910-1995) stammte aus Wien (Strg2014) und wurde früh mit ihren vier Schwestern Mitglied im "Wandervogel". Auch sie hat natürlich ihr Leben lang gerne all die vielen Volkslieder gesungen und insbesondere auch zu Weihnachten sehr gerne auch so manches gehaltvollere Weihnachtslied.
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*) Fuhr ein Fotograf über die Dörfer und bot Familienfotografien an? Oder fuhr die Familie nach Brandenburg, um sich beim Fotografen fotografieren zu lassen?