Samstag, 30. September 2017

Bauern, Büdner, Häusler, Grenadiere und Kuhhirten

Ob eine Grenze uns heute trennt,
In die Heimat fahr ich so gerne
Vor 30 Jahren mußten wir fort
30 Jahre schon in der Ferne.

Johanna Bading 
Gedicht "Elb-Havel-Winkel"
(Auszug, 1983)

Meine Oma und ihre Vorfahren aus dem Dorf Zollchow im Havelland

Das Leben meines Opas, eines Bauern in Bahnitz an der Havel (1906-1979), ist schon in zwei Blogbeiträgen behandelt worden (1, 2). In dem vorliegenden Beitrag soll es um die Familie gehen, aus der meine Oma stammte. Es soll um ihre Vorfahren gehen. Und es soll noch einiges über ihr eigenes Leben berichtet werden (was künftig noch ergänzt werden kann). - - - Vielleicht ist es kennzeichnend für die Vorfahren meiner Oma, daß unter ihnen während des 18. und 19. Jahrhunderts mehrmals Nachkommen von Vollbauern in andere Berufsgruppen überwechselten. Sie wurden Schiffer, Halbbauern (Häusler), Soldaten, Kuhhirten, Arbeitsmänner, Schumacher, Leinweber und Schäfer oder heirateten Söhne oder Töchter von Vätern aus diesen Berufsgruppen.

Soweit übersehbar, hatten die Vorfahren meines Opas immer nur unter Vollbauern geheiratet. Daß mein Opa 1932 eine Kleinbauern-, bzw. Kossatentochter heiratete, nämlich meine Oma, war in den Jahrhunderten davor nicht üblich gewesen.

Somit ist über die Vorfahren meiner Oma auch Einblick zu gewinnen in ländliche Berufsgruppen, die nicht Vollbauern waren. Ungefähr zur Hälfte war meine Oma Nachfahrin von Vollbauern (in den Kirchbüchern bezeichnet als "Ackermann"), zur anderen Hälfte Nachfahrin anderer Berufsgruppen. Und es mag durchaus typisch gewesen sein für das Bevölkerungswachstum des 18. und 19. Jahrhunderts in den ländlichen Gegenden des Landes Brandenburg und anderwärts, daß einzelne Söhne und Töchter in andere Berufsgruppen wechseln mußten. Im Havelland lag oft der Wechsel zum Beruf des Schiffers nahe. Auch mehrere Soldaten gibt es unter den Vorfahren meiner Oma, sowie die genannten anderen Berufe. Diesen Umstand zu verdeutlichen, wird einer der Schwerpunkte der folgenden Ausführungen sein.


Abb. 1: Ein Büdner- oder Kossatenhof in Zollchow, das Elternhaus meiner Oma - Links Onkel Ernst, ihr Halbbruder, 1984 (nach dem Tod von Onkel Ernst abgerissen)
(aus überlieferten Familienalben)

Das Elternhaus meiner Oma Johanna Bading, geborene Bleis (1910-1985) stand in Zollchow am Dorfausgang Richtung Westen an der Südseite der heutigen Breiten Straße/Ecke Rosenstraße (vormals Karl-Marx-Straße, vormals Hauptstraße) (Abb. 1). Es handelte sich um ein Bünder-, bzw. Kossaten-, also Halbbauern-Haus. Zu ihm gehörten also nicht wie zu den Vollbauernhöfen über 40 Hektar Land, sondern nur 15 Hektar. Dennoch konnte auch davon eine Familie nicht nur leben, sondern sogar drei Kindern eine Berufsausbildung ermöglichen. Dennoch konnte auch ein solcher Hof auf dem Land Brandenburg eigene Pferde für das Wirtschaften unterhalten.

Nach Gründung der LPG 1953 wurde natürlich auf diesem Hof von dem Halbbruder meiner Oma, von Ernst Bleis (1906-1991), Landwirtschaft nur noch im Nebenerwerb betrieben. Er wohnte hier bis zu seinem Lebensende im Jahr 1991. Das Haus ist irgendwann nach 1991 abgerissen worden. Bei unseren alljährlichen Verwandtenbesuchen in der DDR vom Westen aus besuchten wir auch Onkel Ernst und seine Schwester Frieda Bergann, geborene Bleis (1909-1993), in Zollchow regelmäßig. Letztere - Tante Friedel - besuchte uns auch häufiger im Westen, aber Onkel Ernst kam nur einmal zur Beerdigung meines Opas. Tante Friedel lebte ihre Altersjahre in dem in DDR-Zeiten errichteten mehrstöckigen Neubau in der Rosenstraße also nur wenige Meter von ihrem Elternhaus und ihrem Bruder entfernt.

Verwandtenbesuche in Zollchow (1980er Jahre)

Tante Friedel und Onkel Ernst arbeiteten auf der LPG in Zollchow. In damals geschriebenen Familienbriefen wird deutlich wie stark Tante Friedel mit den Ernteerfolgen und -mißerfolgen der LPG mitfühlte. Onkel Ernst hielt sich Geflügel und einige Schweine im Nebenverdienst. Onkel Ernst hatte einen Sohn - Willy Bleis. Willy ging Ende der 1950er Jahre in den Westen und Onkel Ernst wollte seitdem nichts mehr mit seinem Sohn zu tun haben. Er brach völlig mit ihm. Daß der Sohn seinen Vater allein zurück ließ, konnte dieser nicht verwinden. Onkel Willy hatte nun aber auch im Westen selbst kaum Angehörige und hielt nicht zuletzt auch deshalb mit seiner Tante Hanna, meiner Oma, Verbindung, bzw. mit seinen Cousins und Cousinen.

Abb. 2: Die Hofseite eines Büdner- oder Kossatenhofes in Zollchow, dem Elternhaus meiner Oma, 1984
(aus überlieferten Familienalben)

Onkel Willy lebte für viele Jahre mit seiner Frau in Südafrika. Und er lud Oma und Opa nach Südafrika ein. Oma nahm diese Einladung schließlich einmal an. Es existiert noch ein ganzes Fotoalbum mit Fotos von ihrer Reise nach Südafrika und von ihrer Fahrt durch den Krüger-Nationalpark (Abb. 13).

Abb. 3: Die drei Geschwister Bleis: Friedel, Hanna und Ernst in der Wohnküche ihres Elternhauses in Zollchow, etwa 1984
(aus überlieferten Familienalben)

Bei einem der letzten Besuche bei Onkel Ernst zusammen mit meinem Vater werde ich so etwa 25 Jahre alt gewesen sein (um 1990). Damals fiel mir der große Gegensatz auf zwischen der Lebenseinstellung von Onkel Ernst und der meines Vaters. Onkel Ernst war als alter Mann wenn man so will ein "verhutzeltes Männchen" (siehe Abb. 1). Er litt unter einer Schußverletzung aus dem Zweiten Weltkrieg. Er hatte einen Schuß in die Ferse - und von der Ferse an aufwärts - erhalten, worüber er lebhaft erzählen konnte. (Es war dies eine anschauliche Lehre für die soldatische Vorschrift, nach der man, wenn man auf dem Boden in Deckung geht, die Füße flach auf den Boden legen soll. Onkel Ernst hatte das nicht getan.) Onkel Ernst kam mir wie ein sehr altersweiser, seelenvoller Mensch vor. Ich empfand, daß mein Vater zu ihm in einer gewissen Gegensätzlichkeit stand, viel mehr äußeren Dingen verhaftet war, Eigenschaften, die er sich wohl in Zeiten des westlichen Wirtschaftswunders und in der Gehetztheit und dem Gerenne und Gehaste einer hektischeren Arbeitswelt angeeignet haben mag.

Onkel Ernst wirkte dagegen sehr naturverbunden. Wohl fast jeden Tag fuhr er - wie er erzählte - mit dem Fahrrad auf das Feld und in den Wald, beobachtete die Tiere. Und es war anrührend, ihn davon erzählen zu hören. Man hatte das Gefühl: Er hatte viel Schmerz in seinem Leben erlebt, aber als wäre er dabei auch altersweise geworden.

Schön war es, wenn Onkel Ernst uns seinen Hof zeigte, seine Scheune, seinen Stall, seine Tiere. Alles anrührend, altertümlich, schon vom Geruch her. Außerordentlich altertümlich. Die Küche und alle Wohnräume ebenerdig. All das fühlte sich auch sehr "kleinbäuerlich" an. Er lebte dort in einer ruhigen Welt für sich, sehr genügsam und - offenbar - sehr mit sich und der Welt im Einklang. So meine Erinnerungen an Zollchow. Onkel Ernst hatte sein Elternhaus jener Familie als Erbe nach seinem Tod zugedacht, die sich um ihn in seinen Altersjahren kümmerte. Mein Vater zeigte dafür - wie für manches andere - wenig Verständnis. Onkel Ernst aber beachtete dieses Unverständnis nicht weiter.

Abb. 4: Frieda Bleis, geborene Eggert (1888-1970) - aufgenommen 1964 in Berlin
(aus überlieferten Familienalben)

Wenn es etwas zu lernen gibt von der Familie meiner Oma, dann das, daß man auch in weniger wohlhabenden Verhältnissen zu einem guten Menschen werden kann. Das schwere Lebensschicksal von Tante Friedel ist mir allerdings erst jetzt hier beim Niederschreiben bewußt geworden.

Flucht aus Hinterpommern (1945)

Die Mutter der drei Geschwister - Onkel Ernst, Tante Friedel und meine Oma - Frieda Bleis, geborene Eggert (1888-1970) (Abb. 4-6), starb 1970 in Zollchow. Zumindest äußerlich hatte sie meiner Oma viel vererbt: den schmalen Mund und auch einige Partien in ihrem Gesicht (Abb. 4). Alle beiden ihrer Schwiegersöhne und auch ihr Sohn Ernst waren im Zweiten Weltkrieg Soldat gewesen. Ihre Tochter Frieda - Tante Friedel - hatte schon vor dem Krieg einen Willi Bergann (1888-1945) geheiratet. Dieser war tätig als Förster bei der Familie des Barons von Zitzewitz (Wiki) in Groß Krien bei Stolp in Hinterpommern.

Abb. 5: Das Gutshaus in Krien (aus: Pagel)

Groß Krien liegt 20 Kilometer südlich von Stolp an der idyllische Stolpe, die sich noch heute zum Kanuwandern eignet. Stolp liegt 110 Kilometer westlich von Danzig an der Fernbahn-Linie Richtung Stettin. Groß Krien lag ab 1920 nur 30 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. In einem Einwohnerverzeichnis von Groß Krien ist auch der Name Bergann angeführt (Groß-Krien). Über den letzten Baron Günther von Zitzewitz schreibt Karl-Heinz Pagel, der Historiker des Landkreises Stolp (Stolp.de, S. 656f):

In Groß Krien baute er sich ein Herrenhaus und interessierte sich besonders für den Forst und die Hege des Wildes. Bornzin erhielt er nach dem Tode des Vaters und verlegte seinen Wohnsitz dorthin. (...) Da er bei seinem Tode 1927 sieben minderjährige Kinder im Alter von ein bis zehn Jahren hinterließ, fiel seiner Ehefrau Henriette die Aufgabe zu, die Bornziner Güter zu verwalten. Als letzte Besitzerin von Krien ist daher die Zitzewitzsche Erbengemeinschaft angegeben. (...) Krien gehörte zum Güterkomplex Bornzin.

Bornzin lieg neun Kilometer von Groß Krien entfernt. Über diesen Günther von Zitzewitz heißt es (Wiki):

Seine beruflichen Neigungen galten in erster Linie dem Förstereiwesen. (...) Bei seinem Tod 1927 hinterließ er sieben minderjährige Kinder, und die Bornziner Güter wurden seither von seiner Witwe, Henriette von Zitzewitz, verwaltet.

Während der Zeit des Dritten Reiches soll Hermann Göring in das Gutshaus Groß Krien zur Jagd gekommen sein. (s. poln. Internetseite). In den 1980er Jahren ging das Schloß bei einem Brand verloren.

Abb. 5: Postkarte "Gruß aus Groß Crien"

 Karl-Heinz Pagel schreibt (Stolp.de, S. 656f):

Krien wurde am 8. März 1945 von den Russen besetzt. Dann kamen die Polen und vertrieben die Dorfbewohner. Die Heimatortskartei Pommern hat später 189 von ihnen in der Bundesrepublik Deutschland und 113 in der DDR ermittelt. (...) Kriegs- und Vertreibungsverluste: 17 Gefallene, 12 Ziviltote und 65 Vermißte ("ungeklärte Fälle").

Tante Friedel und ihrem Ehemann waren kaum zehn Jahre Ehe geschenkt, davon waren fünf Jahre Krieg. 1938 war ihr Sohn Hans-Dieter Bergann geboren worden (9). Während des Krieges wurde ihre Tochter Christel geboren. 1945 mußte Tante Friedel mit ihren beiden Kindern aus Groß Krien fliehen. Sie erzählte, daß ihr Ehemann sich noch 1945 freiwillig meldete, um der fliehenden Bevölkerung zu helfen. Es wäre natürlich auch naheliegend, daß er zum Volkssturm eingezogen war. Jedenfalls ist er dabei ums Leben gekommen. Zu diesem Zeitpunkt war Tante Friedel erst 36 Jahre alt.

Abb. 6: Die Stolpe bei Groß Krien

Was sie wohl damals alles erlebt hat? Über die damalige Gustherrin Henriette von Zitzewitz im neun Kilometer entfernten Bornzin wird jedenfalls berichtet (Karl-Heinz Pagel; pdf/Stolp.de) (10):

Als Wilhelm 1927 starb, hinterließ er seiner Frau Henriette (Etta), geborene van der Wyck, einer Holländerin, eine geordnete Wirtschaft. Als Mutter und Betriebsführerin hat das Schicksal sie in schwerer Zeit vor eine große Aufgabe gestellt. "Befähigt durch die gleichen Eigenschaften des Herzens und des Verstandes führte sie aber die Bornziner Betriebe durch die so schwere Zeit der landwirtschaftlichen Krise zu neuer Blüte, um mit dieser ihrer Lebensarbeit unterzugehen" (Georg Werner v. Zitzewitz). Zwei ihrer Söhne sind im Kriege gefallen. Sie wurde tatkräftig unterstützt von ihrem Inspektor Wilhelm Mahn, der schon seit 1918 dieses Amt innehatte und 1936 in den Ruhestand ging. Sein Sohn Hubert, der bis dahin Klein Dübsow bewirtschaftet hatte, trat die Nachfolge als Inspektor an. (...) In der Zeit der großen Trecks 1945, als ostpreußische Flüchtlinge im kalten Winter Quartier suchten, wurde ihnen Unterkunft und Hilfe auch in Bornzin zuteil. Gegenüber den ostpreußischen Gutsbesitzern und deutschen Offizieren ganz die große Dame, die den Stil und die Etikette ihres Hauses bis zum letzten Augenblick pflegte, war sie zugleich geübte Hebamme, und sie leistete Erste Hilfe bei allen möglichen Unfällen. Im Schein einer Kerze verteilte sie Tag und Nacht warme Suppe und kümmerte sich um die Unterbringung von Hunderten obdachloser Menschen und harrte auf ihrem Platz in Bornzin aus, bis das ganze Dorf Treckgenehmigung erhielt". Am 6. März 1945 wurde vor den heranrückrückenden Russen die Räumung des Ortes angeordnet und planmäßig durchgeführt. Nur zwei Bewohner blieben zurück. Am 7. März um 4 Uhr brach der Dorftreck auf. Doch schon am Abend gegen 18 Uhr wurde er unter Panzerbeschuß von den Russen überrollt. Drei Personen aus dem Treck wurden an Ort und Stelle erschossen. Die Gemeinde Bornzin besetzten die Russen am 8. März Sie verschleppten mehrere Dorfbewohner, von denen einige nach Tagen und Wochen zurückkehrten. Gutsbesitzerin Etta starb während einer Diphterie-Epidemie am 12. Dezember 1945. Man begrub sie in Bornziner Erde an der Seite ihres Mannes. Am 6. Juni bemächtigten sich die Polen des Dorfes und unterstellten es polnischer Verwaltung. Die allgemeine Behandlung der Dorfbewohner wurde nun noch schlechter. Mißhandlungen waren an der Tagesordnung. Die Vertreibung begann. Für die Kinder der zurückgebliebenen Familien aus Bornzin und Umgebung gab es ab 1951/52 führ mehrere Jahre eine deutsche Schule mit den Klassen 6 und 7. Die Klassen 1 bis 5 wurden in Starnitz unterrichtet. Immerhin lebten in Bornzin 1957 noch 131 Personen deutscher Volkszugehörigkeit. Aber auch sie wurden fast alle vertrieben. Die Heimatortskartei Pommern hat später 273 von ihnen in der Bundesrepublik Deutschland ermittelt und 86 in der DDR. (...) Kriegs- und Vertreibungsverluste: 34 Gefallene, 25 Ziviltote und 50 Vermißte ("ungeklärte Fälle"). 

Wieviel Ähnliches davon Tante Friedel im neun Kilometer entferten Groß Krien erlebt hat, ist uns bislang nicht bekannt. Jedenfalls lebte sie dann bis an ihr Lebensende 1993 als Witwe in Zollchow.

Abb. 7: Vermutlich während des Zweiten Weltkrieges in Zollchow: Namentlich nicht bekannte Lebensgefährtin von Ernst Bleis, ein unbekannter SS-Soldat, Frieda Bleis, ihr Enkelsohn Willy Bleis (Sohn von Ernst Bleis), Wilhelm Bleis und ein unbekannter Uniformierter
(aus überlieferten Familienalben)

Schon für die Eltern meiner Oma habe ich keinerlei eigenes erinnerndes "Gefühl", auch nicht aufgrund irgendeiner Erzählung meiner Oma. In meiner Gegenwart hat sie über ihre Kindheit und Familie in Zollchow eigentlich gar nichts erzählt, zumindest nichts, was mir in Erinnerung geblieben wäre. Sie nahm das wohl alles nicht so wichtig. Am ehesten wurde in unserer Familie noch über die Ereignisse des Jahres 1945 erzählt, als meine Oma mit ihren Kindern vor den Russen von Bahnitz aus zu ihren Eltern nach Zollchow flüchtete und sich alle dort im Wald versteckten (6). Von diesen Umbruchzeiten blieb das Leben von Oma und Opa bis an ihr Lebensende am ehesten bestimmt.

Blick zurück: 1809 - Sieben Zollchower Bleis-Kinder werden von einer Stiefmutter aufgezogen

Aber ich finde in den Unterlagen auch noch drei schriftliche Zeugnisse zu Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Zollchow. Ende 1958 hatte der Enkelsohn von Frieda Bleis (geborene Eggert) aus Zollchow sich aus dem Westen bei ihr nach seinen Vorfahren erkundigt. Sie antwortete ihm am 1. Dezember 1958 und beschwerte sich, daß ihr so wenig Familiennachrichten mitgeteilt wurden. So hatte eine ihrer Enkeltöchter nach den USA geheiratet und sie schrieb (unkorrigiert):

Ihr habt uns aber auch gar nichts mitgeteilt, nur E. schrieb das Hildegard seit dem 28. Oktober verheiratet ist, sonst wissen wir aber auch garnichts weiter von Euch. (...) Da werde ich doch bald mal Urgroßmutter oder bin ich es schon und weiß es nicht, also bitte schreibt uns doch etwas mehr von Euch denn ich bin alle Tage vom Morgen bis Abend allein und denke sehr viel an Euch. Am 3.12. werden wir schlachten, es ist schon ein schönes Schwein, Pfeffer haben wir noch vom vorigen Jahr, etwas giebt es ja hier auch, da kaufen wir immer etwas zu. Sonst geht es hier bei uns immer noch ganz gut, alles geht hier in die L.P.G. arbeiten, es kommen immer mehr dazu. Willi hat auch keine Lust etwas anderes zu werden. (...) Schreibt bitte bald. Und seid recht herzlich gegrüßt von uns allen. Oder kommt ihr bald alle wieder? Eure Mutter.

"Oder kommt ihr bald alle wieder?", fragt die 80-Jährige 1958, kurz vor ihrem Tod. - - - Mehr als 20 Jahre später, 1981, schrieb ich selbst für die Schule eine Hausarbeit über meine Vorfahren. Dies war der Anlaß, daß meine Oma an ihre ältere Schwester Tante Friedel in Zollchow eine briefliche Anfrage richtete. Tante Friedel antwortete am 3. Dezember 1981:

Ihr Lieben! Komme soeben von Ernst. Ernst hat auch keine Bilder mehr von früher, Hanna. Er weiß auch nichts mehr von unseren Ahnen. Ich wollte Ingo so gerne helfen, da weiß ich eigentlich noch mehr über Mutter. Die Bleis, Großvater Bleis (irrtümlich, richtig hätte sie schreiben müssen: Urgroßvater Bleis), stammte von dem Kröger Bleis Hof. Er mußte fort unter dem Druck der Stiefmutter, sein Vater starb auch, sie heiratete dann den Bruder. Großvater Bleis ging auch zur See. Später kam er zurück. Er wohnte erst in Möllenhofs Haus, dann kaufte er sich unser Grundstück.
Er heiratet sich eine aus Neudessau, wir sind doch manchmal als Kinder mitgefahren, dann ging es mit dem Kahn über die Stremme zu Wiesens, das war Vaters Cousine.
Großvater Bleis hatte zwei Kinder, Vati und Tante Ida. Beide Kinder waren noch klein als die Mutter starb. Großvater, den seh ich noch genau vor mir. Er war groß, hatte einen Vollbart, ging mit einem Stock, ich mochte ihn gern. Auf Dich paßte er immer auf, weil Du die Kleinste warst, Hanna. Mit Tante Idas Verwandtschaft haben wir keine Verbindung mehr. (...)
Nun zu Großvater (Ferdinand) Eggert. Er besaß einen Schleppkahn, fuhr auf der Elbe Frachtgut, bis Hamburg, er konnte viel erzählen, die Jugend drängte sich abends oft um ihn, wir waren noch zu klein aber manches habe ich doch mitgekriegt. Er lahmte etwas, das war von einer Prügelei. Er brachte uns öfter Südfrüchte, Feigen und Datteln mit, weißt Du noch, Hanna, wir waren vielleicht stolz, weil sowas die anderen Kinder nicht hatten. Großvater Eggert war auch sehr klug, Mutter erzählte uns, der Ziegelei-Besitzer Witte von Kitz holte ihn oft, wenn Fehler in der Buchhaltung unterlaufen waren, Großvater war ein Ass im Rechnen. Großmutter war eine geborene Parey von der Mühle in Bützer. Sie kauften sich als sie heirateten den Hof Neuland, hatten drei Mädchen, Minna, Frida, Anna. Später verkaufte Großvater seinen Kahn. Die Älteste, Tante Minna, bekam den Hof, lebte nicht lange. Die Großeltern zogen dann erst zur Grille, später zu uns. Großvater konnte doch so schön Schifferklavier spielen. Weißt Du noch, Hanna, einmal Ostern? Er stand in der Haustür, spielte uns zur Begrüßung auf - wir quer durch den Roggen bis zur Haustür. Und wo er die Ostereier im Wald versteckte? So schöne aus Schokolade und Zucker mit bunter Kante hatten wir damals noch nicht gesehen, dann gab es Kaffee und Kuchen, war das schön! Großvater Eggert ist auch 85 Jahre alt geworden. Großmutter starb früher, sie war mal von einer Fuhre Heu runter gefallen, hatte seitdem immer große Schmerzen im Kopf, wir kannten sie gar nicht anders. (...)
Mutter hatte in letzter Zeit viel aufgeschrieben, sie zeigte es mir, wo es lag, im Vertico oben. Hätte ich es man an mich genommen, Ernst hat nach ihrem Tode alles verbrannt. Er legte keinen Wert auf sowas.

Dieser Brief erklärt zunächst - sozusagen - das Schlüsselereignis in der Familiengeschichte der Kossaten-Familie Bleis in Zollchow, nämlich wie die Nachkommen einer der beiden Familien Bleis in Zollchow, die seit Jahrhunderten dort Vollbauern waren (3), zu landärmeren Kossaten, bzw. Büdnern und Häuslern wurden. (Immerhin - wie wir noch sehen werden, hatten selbst solche Höfe in Brandenburg noch Pferde.) Der Bericht von Tante Friedel, den sie auf ihren Großvater bezog, ist allerdings nur mit den Lebensdaten ihres Urgroßvaters in Einklang zu bringen. (Deshalb die Einfügung in Klammern.) (3) Bei ihrem Großvater handelt es sich um den 1832 geborenen Büdner, bzw. Häusler Christian (Friedrich Ludwig) Bleis (1832-1915), dessen jüngerer Bruder den Beruf des Schiffers ergriff (3). Tante Friedel schreibt:

(Ur-)Großvater Bleis, stammte von den Kröger Bleis Hof.

Er stammte also von einem der beiden Vollbauernhöfe in Zollchow, die den Familiennamen Bleis trugen*) (5).  

Abb. 8: Die Eltern meiner Oma mit Enkelkind Willy Bleis während des Zweiten Weltkrieges
(aus überlieferten Familienalben)

Christian Bleis und sein Bruder, der Schiffer, hatten keine Stiefmutter. Ihre Mutter Maria Dorothea Caroline, geborene Rahne (1800-1872) lebte sehr lange, ihr Vater Johann Christian Bleis (1801-1877) ebenfalls (3). Erst auf die Generation davor trifft die Geschichte, die Tante Friedel in Erinnerung hatte, zu: Hier hatte die Mutter zwar sieben Kinder, starb allerdings schon im Jahr 1809 mit 29 Jahren: Catharina Elisabeth geborene Röhle (1779-1809) (3). Der verwitwete Ackermann Johann Bleis (1779-1841) heiratete darauf hin nur ein halbes Jahr später eine 24-jährige Frau aus Milow (3). Wahrscheinlich handelt es sich um diese Stiefmutter, über die Tante Friedel schreibt:

Er mußte fort unter dem Druck der Stiefmutter, sein Vater starb auch, sie heiratete dann den Bruder.

Weitere Einzelheiten sind zunächst nicht bekannt.

Abb. 9: Vermutlich Onkel Ernst Bleis (linksstehend? oder Mitte?), der Halbbruder meiner Oma, als Soldat im Zweiten Weltkrieg
(aus überlieferten Familienalben)

Es könnte aber auch ohne die Stiefmutter-Geschichte verständlich sein, wenn bei sieben Kindern nicht unbedingt jedes der Kinder die Möglichkeit hatte, Vollbauer zu werden. Es war das schließlich eine sehr häufige Erscheinung, daß das älteste Kind den Hof erbte und die nachfolgenden Kinder sich nach anderen Verdienstmöglichkeiten umtun mußten und zum Beispiel Schiffer wurden, bzw. sich in Bauern-, oder Halbbauern-Güter einheiraten mußten oder solche Güter erwerben mußten.

Blick zurück: Büdner, Häusler, Kuhhirten, Arbeitsmänner, Schumacher, Leinweber und Schäfer

Johann Christian Bleis ging zunächst zum Militär. Er wurde Garde-Kürassier (3). Die Zeit der Kriege war damals glücklicherweise gerade vorbei. 1826 heiratete er die schon genannte Zollchower Müllerstochter Maria Rahne, deren Großvater Müller in Buschow stammte und deren Großeltern mütterlicherseits Gastwirte und Schiffer in Milow gewesen waren (3). Noch 1945 wurde ein Gastwirt Rahne in Zollchow von den Russen erschossen, vielleicht waren wir auch mit diesem über Maria Rahne entfernt verwandt.

Die Vorfahren des genannten Johann Christian Bleis waren bis dahin - soweit übersehbar - alles Vollbauern gewesen, in den Kirchenbüchern als "Ackermann" bezeichnet. In der männlichen Linie Bleis waren sie als solche erst in Zollchow, davor in Melkow (Wiki) und davor in Vieritz ansässig (3), also immer nur ein oder zwei Nachbardörfer weiter. Der früheste bekannte Bleis aus dieser Linie, der Ackermann Hans Bleis, lebte während des Dreißigjährigen Krieges und kaufte 1661 ein Bauerngut in Melkow. Von dessen Sohn, dem Ackermann Martin Bleis (1633-1655) in Melkow, heißt es (3):

Kauft (in Melkow) einen wüsten Hof vom Amt Jerichow. War vorher Schäfer in Vieritz.
Soweit zu dieser Vorfahrenlinie. Wenn Tante Friedel von ihrem Großvater schreibt:
Er heiratet sich eine aus Neudessau,

ist der Bericht wieder mit anderweitigen Daten vereinbar für ihren Großvater Christian Bleis (3). Dieser heiratete 1871 die Büdner- und Schifferstochter Friedrike Wollbrügge (1841-1889) aus Neudessau bei Schlagenthin. Ihre Vorfahren waren über viele Generationen hinweg Büdner, Häusler, Kuhhirten, Arbeitsmänner, Schumacher, Leinweber und Schäfer (3). Einer ihrer Ururgroßväter aus Nitzahn (ein Valentin Mewes [1734-1786]) war "Kgl. Preußischer Grenadier im Lengefeldschen Regiment und beim von Saldern Regiment", beide in Magdeburg (3). Als solcher könnte er am Siebenjährigen Krieg (1756–1763) teilgenommen haben und diesen überlebt haben.**) Er starb 1786 in Jerchel, wo er eine Frau mit Familiennamen Busse geheiratet hatte (3). 1874 kam Omas Vater Wilhelm Friedrich Ludwig Bleis (1874-1947) zur Welt. In der Niederschrift "Die Bewohner von Zollchow" von Seiten des damaligen Pfarrers heißt es 1892 über die Bewohner der heutigen Rosenstraße (5):

Es folgt in der Hauptstraße an der Ecke Häusler Christian Bleis.
Die Angabe von Tante Friedel
wir sind doch manchmal als Kinder mitgefahren, dann ging es mit dem Kahn über die Stremme

ist sehr interessant. Wird doch hier deutlich, daß man - vermutlich während des Ersten Weltkrieges, nachdem die Pferde schon für die Kriegsführung abgeholt worden waren, und als es schwer war, mehrere Kinder auf dem Fahrrad zu transportieren - Verwandtenbesuche über die Wasserwege unternehmen konnte.  

Verwandtenbesuche mit dem Kahn über Havel und Stremme

Zollchow lag am Königsgraben, Neudessau an der Stremme, beide per Landstraßen 14 Kilometer voneinander entfernt. Der Königsgraben mündet bei Böhne in die Havel, die Stremme mündet bei Milow in die Havel. Somit wird man annehmen können, daß die Familie mit dem Kahn über den Königsgraben bis Böhne ruderte, dann die Havel aufwärts bis Milow, dann die Stremme aufwärts bei Neudessau. Es ist das gewiß noch heute eine landschaftlich schöne Fahrt. Und bei Menschen, die auf diese Weise Verwandtenbesuche unternehmen, ist es gewiß nicht wenig naheliegend, wenn sie sich für den Beruf des Schiffers entscheiden im Haupt- oder Nebenverdienst. Der Landweg zwischen beiden Orten ist noch heute von der Kilometerzahl her nicht wesentlich kürzer als der Wasserweg. Tante Friedel schreibt über das, was sie ja selbst nur aus Erzählungen wußte:

Beide Kinder waren noch klein als die Mutter starb.

Die Mutter starb 1889 mit 48 Jahren. Damals war Wilhelm Bleis 15 Jahre alt, seine Schwester wird jünger gewesen sein. 

Abb. 10: Etwa 1939 - Links Ferdinand Eggert (?), der Urgroßvater, rechts Gustav Bading, der Großvater des auf dem Schoß sitzenden Kindes Erika
(aus überlieferten Familienalben) 

Wilhelm Bleis heiratete dann 1908 mit 34 Jahren in Zollchow die Schiffertochter Frieda Eggert aus dem Nachbardorf Bützer. Es gilt die Faustregel, daß wohlhabende Bauern früh heiraten konnten, wenig wohlhabende erst spät. Frieda Eggert brachte ein zweijähriges, uneheliches Kind mit in die Ehe, den späteren (oben schon behandelten) "Onkel Ernst". Von Frieda Bleis geborene Eggert, gibt es eine Fotografie aus dem Jahr 1914 (vermutlich angefertigt für den Ehemann und Vater Wilhelm Bleis an der Front) (Abb. 10). Von den Eltern Bleis gibt es auch noch zwei Fotografien als alte Menschen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges (Abb. 5 und 6). Auf den Fotografien sind beide körperlich nicht sehr groß, so wie auch der Sohn Ernst und meine Oma körperlich nicht sehr groß gewesen sind. Oma war vielmehr körperlich sehr grazil gebaut.

Der Havelschiffer Ferdinand Eggert aus Bützer (1851->1939) hatte außer seiner Tochter Frieda, die nach Zollchow heiratete, noch zwei weitere Töchter, darunter Anna Maria Minna Eggert (1890-....). Sie heiratete einen Bauern Schulze in Bützer und diese hatten fünf Kinder. Die älteste, Irma Schulze (1910->1998), konnte noch 1998 Auskunft über ihren Großvater Ferdinand Eggert geben (Besuch am 10.8.1998). Auch sie sagte, der Großvater wäre "ein kluger Mensch" gewesen. Sie berichtet, daß der Hof der Eggert an der Durchgangsstraße in Bützer in Ortsmitte auf der rechten Seite Richtung Milow gelegen habe (gegenüber von Gasthaus Ganzer). Einer ihrer Brüder wurde Brillenfacharbeiter in Rathenow.

Kinderlieder und Tänze auf der Dorfstraße

Der oben angeführte Brief von Tante Friedel aus dem Jahr 1981 regte auch meine Oma an, Erinnerungen aufzuschreiben. Hier sind sie:

Unsere Kindheit war schön! Ich habe gerade einen Brief meiner Schwester Friedel in der Hand, sie schreibt, weißt Du noch, mit einem kleinen Kahn mußten wir über die Stremme rudern und Verwandte besuchen. Wir kamen uns wie Könige vor. Und Großvater Eggert, er besaß einen Schleppkahn, schipperte damit auf Elbe und Havel Frachtgut. Bis Hamburg kam er. Er konnte so viel Geschichten von seinen Fahrten erzählen. Wenn er bei uns war, fand sich auch die Jugend ein. Es dauerte nicht lange und er nahm sein Schifferklavier. Und während die Eltern und Freunde sich vor dem Haus auf der Bank unter der Linde von der schweren Arbeit ausruhten, tanzten die Jungen unter der Friedenseiche all die alten Volkstänze "Mutter Wisch", "Ich nahm die Brille von meinen Augen", "Ick sehe di", "Dreimal Samtband um Rock" oder wie all die alten Volkstänze hießen, bis mein Vater "Schluß" sagte. Am nächsten Tag früh um fünf Uhr begann ja die Arbeit wieder. Es waren schöne Jahre ...

Das kurze Liedchen "Ich nahm die Brille vor meine Augen" ist im Internet zu finden. Als dessen Entstehungsjahre finden sich die Angaben 1924 (Volksliedarchiv) und 1930 (Schwaben-Kultur) zu (s.a. "Kinderspiele und Spiellieder", GB1979). Zu den anderen hier genannten "Tänzen" (?) finden sich zunächst keine Angaben. Dabei klingt doch zumindest "Dreimal Samtband um Rock" sehr spezifisch ... Es scheint sich aber doch mehr um Kinderlieder und -spiele gehandelt zu haben, von denen meine Oma da berichtet. Insgesamt aber dürfte sie Erinnerungen aus der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg hier wild durcheinander gebracht haben.

Die schwere Zeit des Ersten Weltkrieges

Denn sie schrieb weiter:

Und dann begann der Krieg ... Auch wir Kleinen spürten, daß es furchtbar war. Plötzlich hatten wir keine Pferde mehr. Ochsen wurden eingespannt. Der Vater schickte Karten aus Frankreich. Der Lehrer verlegte den Unterricht nach draußen, die ganze Klasse schnitt Brennessel oder schüttelte Maikäfer, ich glaube, es wurde zu Futter für die Pferde verarbeitet. Und bei Herrn von Katte fehlten die Arbeitskräfte, also verzogen wir Schulkinder die Rüben oder pflanzten Kiefern. Ja, wir Kinder kamen uns so wichtig vor.
Zuerst sangen wir noch: "Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen". Unsere Kriegsgefangenen spuckten aus, wenn sie uns hörten. Meine Mutter, wenn wir früher den Vater fragten "Wo ist sie denn?", dann hat er lachend geantwortet: "Horcht wie sie pfeift oder singt." Aber dann hatte auch das aufgehört. Wenn wir aus der Schule kamen, war nur die Frage wichtig: "Hat der Vater geschrieben?" Für viele Familien hieß es: Gefallen für Volk und Vaterland. Das war der erste Weltkrieg.
Vater kam als letzter aus französischer Gefangenschaft zurück. Da hatte es schon Revolution gegeben. Unseren Soldaten und vor allen Dingen den Offizieren, die zurück kamen, hatte man ins Gesicht gespuckt und die Orden und Ehrenzeichen herunter gerissen.
Aber das Leben ging weiter. Wir in den Dörfern hungerten wenigstens nicht. Aber die Kontrolleure kamen: Wieviel Getreide haben Sie noch!? Mutter, sie hatte immer viel Temperament, antwortete: Gerade soviel, daß die Kinder, das Vieh und ich nicht verhungern. - Zeigen Sie uns den Dachboden. - Der große Dicke schob die beiden anderen zur Seite und stieg als erster hoch. Ich kletterte neugierig hinterher. Ich sah gerade noch, wie er den Deckel der großen alten Truhe ein klein wenig hob. Schnell ließ er ihn wieder fallen, schnappte mich und setzte mich und sich selbst auf die Truhe. "Gründlich kontrollieren," befahl er den beiden. Dann stieg er mit mir auf dem Arm als letzter wieder runter. Als sie dann weg waren, fragte ich Mutter völlig durcheinander: "Aber der Große hat ja den Weizen gesehen!?" "Dumme Pute," fauchte mich mein Bruder an. Doch Mutter sagte - und plötzlich konnte sie wieder lachen: "Später!!" Nun, später brauchte sie es mir nicht mehr erklären, das Leben nahm uns damals in eine harte Schule.

Diese Geschichte konnte der Autor dieser Zeilen auf den ersten Blick gar nicht für kaum glaubhaft halten. Mußten denn die Bauern damals - in Deutschland!?! - Getreide abliefern und wurden deshalb kontrolliert? Aber an dem Hunger infolge der britischen Hungerblockade starben damals hunderttausende von Menschen in Deutschland (7). Es wird dann schon nachvollziehbar, was Historiker für das Jahr 1918 berichten (8, S. 281):

Die Kommunalverbände ergriffen alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel, um die Getreideversorgung zu stabilisieren und veranlaßten auf dem Lande "Nachprüfung der Getreidebestände durch militärische Kommandos". Im Mai 1918 konstatierte die Landesbehörde für Volksernährung in ihrem Monatsbericht an das Ministerium des Innern, daß diese Vorgehensweise zu Beschwerden der Landbevölkerung geführt habe, da "infolge des vielfach rücksichtslosen Vorgehens die Bevölkerung stark erregt" sei.

In einem Fall wurden bei drei Ackerbürgern fast zehn Zentner Hafer und acht Zenter Roggen konfisziert. Man erwartete aber von Amtsseite von solchen Konfiskationen langfristig mehr Nachteile als Vorteile infolge der großen Unzufriedenheit bei der Landbevölkerung. - - - Meine Oma berichtet weiter:

Dann waren die Streiks, Generalstreik. "Was ...," sagte mein Vater nur, er spannte ein, die Hilfskräfte konnten sich die Bauern doch gar nicht leisten. "Mach das Tor auf," sagte er nur zu Mutter. Als zwei Burschen, die man als Streikposten aufgestellt hatte - natürlich waren es Städter -, Vater hindern wollten, auf den Acker zu fahren, lachte Vater sie freundlich an. "Warum streikt ihr denn?" - "In den Städten hungern wir." - "Ja," sagte Vater, "mit Streiken allein wachsen auch bei uns Bauern weder Kartoffeln noch Korn. Also müssen wir wohl statt zu streiken die Kartoffeln in die Erde bringen, damit ihr wenigstens im Herbst zu essen habt. Hü," sagte Vater und mit roten Köpfen sprangen die beiden zur Seite.

Auch daß auf dem Land bei den Bauern gestreikt wurde, wird mancher hier zum ersten mal hören. So richtig glauben kann man es zunächst nicht. Aber es wird schon stimmen. Ebenso wie der Bericht von den Getreide-Konfiskationen.

Die Inflation und der Wandervogel (1920er Jahre)

Weiter berichtet sie:

Und dann bekamen wir auch noch die Inflation. Ich erinnere mich noch. Vormittags verkaufte Vater einen Wagen Korn und Mutter sauste auf einem alten Fahrrad nachmittags nach Rathenow. Zurück kam sie tatsächlich abends mit zwei schrecklichen, großkarierten Kleidern, meine Schwester hat noch ein Bild, wo wir diese scheußlichen Kleider tragen. Und ausgerechnet in diesen Tagen war Großmutter so krank geworden, daß Mutter beschloß, wir nehmen sie zu uns.

Es handelte sich um jene Eggert-Großmutter aus Bützer, die dauernd Kopfschmerzen hatte, weil sie einmal vom Heuwagen herunter gefallen war. Sie war ursprünglich eine Müllerstochter aus Kirchmöser gewesen (geborene Parey) (siehe unten). Oma berichtet weiter:

Also wurde das Grundstück, das direkt neben unserem Garten lag, verkauft. Und als der Käufer kam, um es zu bezahlen, hatte der geforderte Betrag fast seinen Wert verloren. Aber da hat sie die Fassung gründlich verloren. Noch nach Jahren grüßte sie diese Familie nicht. Und alle Menschen wußten, so geht es nicht weiter.
Aber zuerst - ich war wohl gerade 13 Jahre - bekamen wir einen neuen Lehrer. Er und seine Frau gehörten dem Wandervogel an. Welch eine schöne Zeit für uns. Wir lernten mit vollem Eifer und halfen zu Hause so viel wir konnten. Natürlich durchschauten uns die Eltern. Aber sie schmunzelten, wenn wir vorsichtig davon anfingen, daß der Lehrer übers Wochenende wandern wollte. Es gab ja schon Jugendherbergen und um ein gutes Beispiel zu nennen: Tangermünde. Dort kletterten wir die Stiegen in einem hohen Turm hoch und oben waren einfach Holzbänke und ein Tisch aufgestellt. Nebenan war der Schlafraum. Stroh aufgeschüttet und wir schliefen wie die Murmeltiere.

Vielleicht ist es auch diesem Geist des Wandervogels geschuldet, daß es von meiner Oma aus ihrer Jugendzeit eine Fotografie in Turnerkluft gibt (Abb. 8). Eine solche Fotografie gibt es aber auch von meinem Opa. Das Turnen scheint damals auf dem Land eine sehr beliebte Freizeitbeschäftigung gewesen zu sein. Bei dieser fertigte man gerne auch einmal Fotografien an.

Abb. 11: Meine Oma links als junges, pausbäckiges Mädchen (etwa 1926)
(aus überlieferten Familienalben)

Wilhelm Bleis, der Vater meiner Oma, war also Kossathe in Zollchow und besaß als solcher etwa 15 Hektar Land. Er wurde in Zollchow geboren und starb dort auch 1947. Über seine Vorfahren wurde schon - anhand des Briefes von Tante Friedel - berichtet.

Die Vorfahren meiner Uroma Frieda Eggert aus Bützer

Nun soll noch etwas über die Vorfahren der Mutter meiner Oma gesagt werden, also von Frieda Bleis, geborene Eggert (1888-1970), Schifferstochter aus Bützer. Von ihr sind mehrere Fotografien erhalten geblieben (Abb. 4-6, 10). Ihre Mutter - die mit den Kopfschmerzen - Marie Luise, geborene Parey (1856-1936) stammte aus der Müllerfamilie Parey in Kirchmöser. Deren Vorfahren waren über mehrere Generationen hinweg wieder alle Vollbauern (in den Kirchenbüchern als "Ackermann" verzeichnet) (3). Sie wurde - wie gerade von meiner Oma berichtet - während der Inflation krank. 13 Jahre später starb sie 1936 in Zollchow im 79. Lebensjahr.

Sie hatte den Schiffer Ferdinand (Karl Adolf) Eggert (1851->1939) aus Bützer geheiratet. Dessen Vater Ferdinand Eggert (1826-1905) war wiederum ein Büdner und Schiffer in Bützer, der ursprünglich aus Schmetzdorf stammte, einem Dorf vier Kilometer nördlich von Zollchow (3). Und dieser war wiederum mit einer Vollbauerntochter (Familienname Blücher) aus Klein-Mangelsdorf verheiratet, zwölf Kilometer westlich von Zollchow. Ihr Vater und Großvater waren Ackermänner in Klein-Mangelsdorf (3). Der Großvater des Großvaters Eggert meiner Oma war der Kossate Johann Martin Eggert (1868-1858), der 1858 "als Ortsamer" in Schmetzdorf starb, wo er auch geboren worden war. Sein Sohn war zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt und war offenbar nicht in der Lage oder willens, sich um seinen Vater zu kümmern. Der Ferdinand Eggert (1826-1905) und seine Frau stammten beide nicht von Vollbauern ab, sondern wiederum von einem Kossathen (Eggert in Schmetzdorf), bzw. einem "Musquetier" (Güldenpfennig in Premnitz), sowie in der Großeltern-Generation von einem Tagelöhner (Eggert aus Groß Wudicke, gestorben 1742) und einem Schneidermeister (Güldenpfennig in Premnitz, gestorben vor 1788).

Abb. 12: Meine Oma als Haushaltsgehilfin eines Landwirtschafts-Rats in Rathenow - Ostsee um 1929
(aus überlieferten Familienalben)

Sowohl auf Seiten der Mutter wie des Vaters meiner Oma gab es also einerseits in langer Generationenreihe Vollbauern (Familiennamen u.a. Bleis, Blücher, Parey) als auch in langer Generationenreihe Angehörige anderer ländlicher Berufe (Familiennamen u.a. Wollbrügge, Rahne, Eggert). Die Vorfahren ihres Vaters waren zu drei Vierteln keine Vollbauern, die ihrer Mutter zu einem Viertel. Meine Oma war also etwa zur Hälfte Nachfahrin von Vollbauern, zur anderen Hälfte Nachfahrin anderer Berufsgruppen. Dem Verständnis nach fühlten sich meine Oma und ihre Eltern - soweit ich das übersehen kann - immer einfach nur als Bauern.

Nach ihrem Schulbesuch machte meine Oma eine Ausbildung als Hauswirtschaftlerin. Es gibt noch eine Fotografie, auf der sie gemeinsam mit der Familie eines Landwirtschaftsrats aus Rathenow um 1929 herum Urlaub - vermutlich - an der Ostsee macht (Abb. 9).

Abb. 13: Frieda Bleis und die Kinder Ernst, Frieda und Johanna (meine Oma), etwa 1914
(aus überlieferten Familienalben)

1932 heiratete meine Oma nach Bahnitz an der Havel auf den Hof Nummer 5 (1). Während ihr elterlicher Hof 15 Hektar Land hatte, hatte der Hof ihres Ehemannes 44 Hektar. Aber die bäuerliche Tätigkeit an sich war ja auf beiden Höfen dieselbe. In Bahnitz hatte meine Oma zudem aber mit einer resoluten Schwiegermutter auf dem Hof zu tun und mit Knechten und Mägden, denen gegenüber sie sich Autorität verschaffen mußte.

Heirat nach Bahnitz (1932)

Über das Leben meiner Oma erfuhr man schon viel nebenher in den Beiträgen über meinen Opa (1, 2). Meine Oma hat das Leben meines Opas voll geteilt. Als er 1935 den damals sicherlich noch sehr ungewöhnlichen Schritt vollzog und aus der Kirche austrat, als er Ludendorff-Anhänger wurde, tat sie das auch. Die Initiative dazu ging aber sicher von meinem Opa aus (1). Eine Tochter schreibt über sie:

Meine Mutti was eine ganz besonders tüchtige Frau. Sie hat so viel geschafft. Und sie hat im Krieg den Hof alleine geschmissen (mit Hilfe von uns Kindern). Sie war sehr gut zu den russischen Soldaten, die als Kriegsgefangene für die Bauern arbeiten mußten. Sie haben unter dem Kinderzimmer am Abend oft für uns russiche Volkslieder gesungen. Tante Hildegard hat viel davon gesprochen.

Im Krieg kamen auf den Hof ein serbischer Kriegsgefangener, zwei russische Kriegsgefangene und eine russische Dienstverpflichtete. Der Serbe soll noch Wochen lang nach dem Einmarsch der Russen auf dem Hof geblieben sein und der Familie geholfen haben. Er ist den Kindern in menschlich hervorragender Weise in Erinnerung, er wäre sehr gutmütig gewesen. Aber zu einem Drama kam es, als die Russin im Winter 1944 von dem Serben schwanger wurde. Sie lief von Genthin mit dem Kind zu Fuß bis nach Bahnitz, wobei das Kind starb. Darüber soll der kinderliebe Serbe todunglücklich gewesen sein.

Abb. 14: Meine Oma Johanna Bading, Bäurin in Bahnitz - im Hintergrund der neu angelegte Obstgarten mit Hausgänsen, 1930er Jahre
(aus überlieferten Familienalben)

Anfang Mai 1945, als sich die Rote Armee dem Dorf annäherte, versuchten viele Bahnitzer noch nach Westen über die Elbe zu flüchten. So auch meine Oma mit ihren vier Kindern, die damals 11 bis vier Jahre alt waren - vermutlich zusammen mit den Kriegsgefangenen. Sie fuhren mit dem Pferdefuhrwerk Richtung Elbe. Aber schon auf der Fahrt dorthin erfuhren die Flüchtenden, daß die Amerikaner keine Flüchtlinge mehr über die Elbe lassen würden. Deshalb quartierte sich meine Oma in ihrem Elternhaus in Zollchow ein.

Die Tage der Besetzung durch die Russen, Mai 1945

Nach den Erinnerungen der Familie ist sie am 4. Mai in der Frühe noch einmal allein mit dem Pferdefuhrwerk nach Bahnitz zurückgefahren, um nach den Tieren auf dem Hof zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt lag das Dorf schon unter Granatbeschuß. Eine Granate traf den 45-jährigen Paul Fahrholz tödlich direkt vor der Haustür seines Hauses am Havelufer. Eine andere Granate traf das Dach des Wohnhauses der Familie Bading und schlug bis in die Küche hindurch. Auch die Scheune auf diesem Hof hatte einen Treffer erhalten. Die Kirche erhielt mehrere Treffer. Eine Granate schlug nahe der Friedenseiche (an der Kirche) ein und verwundete mit einem Splitter den Bauern Adolf Sengespeick am Bein.

Nachdem die deutschen Militäreinheiten von dem Übergang der Russen an der Fährstelle Tieckow erfahren hatten, werden sie Abzugsbefehle erhalten haben oder sich auch schon ohne dieselben abgesetzt haben. Sie forderten meine Oma auf, den in ihrer Hofgarage stehenden PKW herauszugeben. Sie weigerte sich zunächst, setzte dann aber durch, daß der soeben durch einen Granatsplitter im Bein verwundete Adolf Sengespeick zumindest noch bis nach Milow in das Lazarett mitgenommen wurde. Dann verließ auch sie selbst wieder das kurz vor der Einnahme durch die Sowjets stehende Dorf. Sie erzählte immer, wie sie mit dem Pferdefuhrwerk gefahren sei - wahrscheinlich auf dem Weg von Bahnitz nach Jerchel (oder über Möthlitz und Nitzahn nach Jerchel?): Von der westlichen Seite hätten deutsche Geschütze über sie hinweg geschossen, von der östlichen Seite die russischen.

Mit anderen Familien grub sich die Familie Bading in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai im Wald zwischen Zollchow und Sydow ein. Ihr 11-jähriger Sohn bekam dabei von deutschen Soldaten, die ihren Panzerspähwagen abrüsteten, Scherenfernrohre, die er im Wald vergrub.

Im Wald von Zollchow ging am Morgen des 6. Mai russische Infanterie vor und schickte die Zivilbevölkerung zurück. Meine Oma fuhr unter Granatfeuer zurück ins Dorf Zollchow und sofort weiter mit dem Pferdewagen nach Bahnitz. Zwischen den Dörfern Zollchow und Vieritz lagen links im Wald Stalinorgeln (Salvengeschütze) und schossen über die Familie hinweg zur Elbe. Kurz vor Bahnitz lag ein toter deutscher Soldat neben der Straße. Im Hof in Bahnitz war der Hofhund von den russischen Soldaten erschossen worden und alles Vieh war auf die Havelwiesen hinausgetrieben worden. Dies war auf allen Höfen geschehen.

Nun war das Entsetzen der russischen Besatzungszeit zu überstehen. In Zollchow nahm sich die gesamte Familie Bading am 7. Mai das Leben, die Familie des Cousin's von Omas Ehemann, nachdem dieser von den Russen gefoltert worden war (11). In Nitzahn tat wenige Tage später unter sehr ähnlichen Umständen das gleiche die Familie Zander. Unglaublich schreckliche Dinge wurden noch fünfzig Jahre später in der Zeitung etwa über die damaligen Ereignisse in dem Dorf Mögelin südlich von Rathenow berichtet.

Es gibt Berichte, daß die damaligen Bahnitzer Bauernsöhne keine Mädchen mehr aus dem Dorf heiraten wollten, da sich diese alle mit den russischen Soldaten eingelassen hätten. Woher wollten diese wissen, daß das alles in Freiwilligkeit geschehen war?

Abb. 15: Johanna Bading mit ihspäter vier Kindern in Bahnitz, 1944
(aus überlieferten Familienalben)

Von all solchen Dingen erzählte Oma uns Enkelkindern auch nichts als wir schon volljährig waren. Aber was sie - wie als Erleichterung von dem schweren Trauma - gern erzählte, das war, wie die einquartierten russischen Soldaten versuchten, auf der Toilette mit Wasserspülung Kartoffeln zu waschen. Als sie an der Spülung zogen, waren die Kartoffeln weg und der betreffende Russe guckte ganz verdutzt. Oma mußte noch im späteren Lebensalter lauthals lachen, wenn sie davon erzählte. Es war wohl eines der seltenen Ereignisse, bei denen sie in jener Zeit lachen konnte, wo sich die starke Anspannung löste, nachdem sie sich oft in Todesgefahr befunden hatte. Ob sie aus dieser Zeit jenes leichte Zittern an ihrer Unterlippe zurück behalten hat, das für sie typisch war, weiß ich nicht. Jedenfalls ist mir der Gedanke noch zu ihren Lebzeiten manchmal gekommen.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als die Familie nichts über das Schicksal meines Opas wußte, der sich aber in französischer Kriegsgefangenschaft befand, schickte meine Oma ihren ältesten Sohn noch in den Konfirmandenunterricht und ließ ihn konfirmieren. Dort mußte er sich vom Pfarrer sagen lassen, daß solche Leute wie sein Vater schuld daran wären, daß Deutschland den Krieg verloren habe. Es begann damals gleich nach dem Krieg das kleinliche Einordnen der Menschen nach Schuld und Unschuld - während das Schicksal eines ganzen Landes, eines großen Volkes, eines ganzen Kontinents völlig unverstanden und unbegriffen dunkel im Hintergrund stand.

Meine Oma verlangte von ihren Kindern auch, daß sie zu Hause nur Hochdeutsch und nicht "Platt" sprachen. Sie legte viel Wert auf Korrektheit. Sie war die Genaue, während mein Opa der Großzügige war, der gerne auch einmal fünfe grade sein lassen konnten. Im Grunde waren sie vom Menschentyp her sehr unterschiedlich.

Kennzeichnend finde ich, daß mein Opa ihr schon gleich nach dem Krieg aus der Kriegsgefangenschaft im Elsaß schrieb, sie möchte doch mit der Familie zu ihm ins Elsaß kommen, sie könnten sich dort eine neue Existenz aufbauen. Mein Opa sah sehr früh, daß es ein dauerhaftes Bleiben unter der Herrschaft des Kommunismus für ihn nicht geben könne und würde. Meine Oma war viel konservativer, hing viel zäher an ihrer Heimat, für sie war das zu diesem Zeitpunkt noch sehr wenig vorstellbar. Sicher aber hatte sie ihm gleich in einem der ersten Briefe auch von dem Schicksal der Familie seines Vetters und Namensvetters in Zollchow und so vieler anderer geschrieben.

Altersjahre in Westdeutschland (1953 bis 1985)

Oma und Opa verbrachten ihre Altersjahre im alten Pfarrhaus in Wernswig bei Homberg/Efze, wo sie im Erdgeschoß eine schöne geräumige Wohnung hatten. Im ersten Stock wuchs ich selbst in der Familie auf, darüber lebte die Großmutter, die Mutter meiner Mutter. Oma konnte von ihrer Küche aus auf die Gartenterrasse blicken, dahinter lag ein Fischteich umstanden mit alten Bäumen. Sie liebte es, die Vögel zu beobachten.

Abb. 16: Meine Oma Anfang der 1970er Jahre in Südafrika bei ihrem Neffen Willy Bleis
(aus überlieferten Familienalben)

Ansonsten hatte sie immer viel Kindergeschrei und Familienleben um sich. In der Scheune hielt sie Hühner, im großen Garten baute sie Kartoffeln an, die abends nach Sonnenuntergang zusammen mit einem der Enkelkinder gegossen werden mußten. Alle paar Jahre kam ihre Tochter aus Amerika mit ihren Kindern zu Besuch.

Mit meiner Oma sah ich nach Opas Tod (1979) zusammen manchen wertvolleren Film im Fernsehen. Ich erinnere mich an die Verfilmung des Fontane-Romans "Vor der Sturm", den wir gemeinsam sahen. Meine Oma las gerne Fontanes "Wanderungen in der Mark Brandenburg", insbesondere natürlich Kapitel über Gegenden, die sie selbst kannte. Sie las "Kartoffeln mit Stippe" von Ilse von Bredow und "Sprechen wir über Preußen - Die Geschichte der armen Leute" von Joachim Fernau. Sie schenkte mir einmal das Buch "Meines Vaters Pferde" von Clemens Laars. Das war so die gedankliche Welt, in der sich meine Oma gerne bewegte. Auch in ihren Altersjahren fühlte sie sich ihrer Heimat und der Welt, in der man "Kartoffeln mit Stippe" aß, sehr verbunden. Nachdem mein Opa gestorben war, wurde sie sogar ein wenig geistig selbständiger und unabhängiger in ihrem Denken und Handeln und begann in diesem Sinne auch mehrere schöne Gedichte zu schreiben.

Mit ihr zusammen sah ich mir auch einmal einen Live-Mitschnit der Wagner-Oper "Der Ring des Nibelungen" in Bayreuth im Fernsehen an. Dabei las ich den Text mit.

Abb. 17: An der Atlantikküste, USA, 1978
(aus überlieferten Familienalben)

Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie ich bei Oma und Opa in Espelkamp in Westfalen wohl zum ersten mal allein zu Besuch bin und wie morgens zum Aufwachen in den langen, stillen Sonntagmorgen hinein die Kirchenglocken läuten.

In ihrer Wohnung fühlte man sich so wohl. Es war so still, die Uhr tickte ... 

Ein solches Wohlfühl-Wohnen, das zugleich von einer gewissen Herzenswärme getragen ist, kennt man heute gar nicht mehr. Wohnungseinrichtung und die Gemütsstimmung der Menschen gehörten zueinander. Meine Oma hatte einen stoffbezogenen Lehnstuhl, den sie nach hinten kippen konnte. Sie legte sich eine Decke über die Beine und machte so Mittagsschlaf. 

Abb. 18: Auf dem Muttertag in den USA bei ihrer Tochter Hildegard
(aus überlieferten Familienalben)

Oma und Opa stammten aus einer Gesellschaft, in der viel geplaudert und gelacht wurde in Wohnungen, in der man bei Mittagessen, Kaffee und Kuchen Familien- und Nachbarschaftsgespräche führte, in der Gäste gerne willkommen geheißen wurden.

Zwei ihrer Töchter hatten früh nach Washington D.C. geheiratet und hatten dort Familien gegründet. Oma flog mehrmals hinüber und es haben sich schöne Fotografien von diesen Besuchen erhalten. 

Sie wurde dort von ihren Töchtern und Enkelkindern sehr herzlich und überschwänglich begrüßt.

Abb. 19: Auf Muttertag in den USA bei ihren Töchtern
(aus überlieferten Familienalben)

Auf den Fotos sieht man richtig wie sie dort aufblühte, wie sie stolz war auf ihre Töchter und Enkelkinder. 

Noch Anfang Dezember 1984 hatte sie für den 2. April 1985 einen Flug von Frankfurt am Main nach Baltimore gebucht, ein Flughaften für Washinton D.C.. Der Flug mußte storniert werden, nachdem sie Anfang Februar 1985 sehr überraschend ins Krankenhaus mußte wegen Nierenbeschwerden.

Dort ging es ihr bald schlechter aufgrund des Versagens mehrere Organe. Sie starb am 6. Februar 1985.***)

/ Letzte Korrekturen aufgrund des Anrufs 
des erwähnten Verwandten: 30.12.2018
Leicht überarbeitet: 26.10.2021 /

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*) Es muß übrigens nicht sein, daß der Pfarrer 1892 bei seiner Aufstellung (5) einzelne Personen der Familie Bleis, die er in den Kirchenbüchern vorfand, immer dem jeweils richtigen der beiden Höfe den richtigen Personennamen zugeordnet hat. - Der Familienname Bleis ist heute in Deutschland nur halb so häufig vertreten wie etwa der Familienname Bading, nämlich 36 mal, in den USA erstaunlicherweise gar nicht (Namenspedia). Er tritt erstaunlicherweise am häufigsten in Bayern auf. Er könnte womöglich zurück geführt werden auf die Bezeichnung "Bleis" für "Steilhang" wie er in bayerischen Ortnamen oder in bayerischen Bergnamen wie Pleißlingkeil, Pleisenspitze enthalten ist (Bergnamen).
**) Er starb aber schon mit 51 Jahren. Bei dem genannten Regiment handelt es sich sicherlich um das "Altpreußische Infanterieregiment No. 5 (1806)" (Wiki), dessen Garnison im 18. Jahrhundert in Magdeburg lag. Als der Siebenjährige Krieg (1756-1763) 1756 ausbrach, war Valentin Mewes 22 Jahre alt. In der Zeit des Siebenjährigen Krieges stand das genannte Regiment unter dem Befehl von Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel (1721-1792) (Wiki). Dieser machte sich im Krieg sehr verdient. (Außerdem war dieser auch ein bekannter Freimaurer.) Erst nach dem Siebenjährigen Krieg stand das Regiment unter dem Befehl der beiden anderen genanntenRegimentskommandeure. Aber es sollte doch eigentlich unwahrscheinlich sein, daß der Nitzahner Valentin Mewes erst mit 29 Jahren Grenadier geworden ist? Das Regiment stand von 1766 bis 1785 unter Befehl von Friedrich Christoph von Saldern (1719-1785) (Wiki), ebenso ein im Krieg sehr verdienter General Friedrichs des Großen. 1785 bis 1789 stand es unter Befehl von Christian August von Lengefeld (1728-1789) (Wiki), ebenfalls von Friedrich dem Großen sehr geschätzt. Wenn Lengefeld genannt wird, macht es den Anschein, als ob Valentin Mewes bis an sein Lebensende mit 51 Jahren Grenadier war. - - - Die Eltern und Großeltern von Valtentin Mewes waren übrigens alle Vollbauern aus Nitzahn. Die Eltern waren Ackermann Joachim Mewes und Sophia Zander, seine Großeltern waren der Ackermann Hans Mewes und dessen Frau Anna Jerichow, sowie der Ackermann Johann Zander und dessen Ehefrau Maria Mewes. Das erstere Großelternpaar heiratete 1696 und hatte sieben Kinder, das zweite Großelternpaar heiratete 1679 und hatte 14 Kinder.
***) Für die genetisch-medizinische Familiengeschichte sei festgehalten: Oma hatte etwas mit der Schilddrüse. Vermutlich oder vielleicht hatte sie Schilddrüsen-Krebs. Sie hatte starke Medikamente genommen, wollte aber darüber nie sprechen, auch nicht mit ihrer Tochter. Sie hatte auch einen kleinen Kropf und war empfindlich am Hals. Niemand jedenfalls wußte, woran sie gestorben ist. Sie hatte einen Fieberschock, worauf sie ins Krankenhaus kam. Vermutlich wegen einer Schrumpfniere oder geknickter Niere, die sie ebenfalls hatte.
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  1. Bading, Ingo: Mein Opa - ein gewöhnlicher Ludendorff-Anhänger als Beispiel - Wie mein Opa Ludendorff-Anhänger wurde  - Oder: Beim Blättern in alten Familienalben. Studiengruppe Naturalismus, 1. September 2012, http://studiengruppe.blogspot.de/2012/09/mein-opa-ein-gewohnlicher-ludendorff.html
  2. Bading, Ingo: Mein Opa - ein gewöhnlicher Ludendorff-Anhänger als Beispiel (Teil 2) Das Deutschland der 1950er Jahre aus der Sicht eines westfälischen Ziegeleiarbeiters und Nachtwächters (1958 bis 1961). Studiengruppe Naturalismus, 8. August 2015, http://studiengruppe.blogspot.de/2015/08/mein-opa-ein-gewohnlicher-ludendorff.html 
  3. Vorfahren der Familien Bading und Bleis im Havelland und Elb-Havelwinkel. Als Manuskript, Bahnitz 2003 (nach Familienforscher Bernhard Bleis [gebürtig aus Schönhausen an der Elbe], 21682 Stade, Niederelbe, Triftgang 24, (04141) 85377)
  4. zu Bernhard Bleis siehe auch: Schleusner-Reinfeld, Anke:  Opfer des Zweiten Weltkrieges - Gedenkbücher enthalten Erinnerungen an Schönhausener. In: Volksstimme (Magdeburg), 20.11.2012, https://www.volksstimme.de/nachrichten/lokal/havelberg/969288_Gedenkbuecher-enthalten-Erinnerungen-an-Schoenhauser-die-ihr-Leben-verloren.html 
  5. Nachtigall, Pfarrer: Die Bewohner von Zollchow (1892). Anhang zu: ders.: Pfarrbuch der Parochie Sydow. Zollchow 1890
  6. Bading, Ingo: Der 4. Mai 1945: Das Kriegsende in den Dörfern des Havelbogens Möthlitz, Kützkow und Bahnitz - Eine regionale Studie zu den letzten Kämpfen des Zweiten Weltkrieges. Studium generale, 7. August 2011, http://studgendeutsch.blogspot.de/2011/08/der-4-mai-1945-das-kriegsende-in-den.html
  7. Asmuss, Burkhard: Die Lebensmittelversorgung im Ersten Weltkrieg. Deutsches Historisches Museum, 8.6.2011, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/alltagsleben/lebensmittelversorgung.html
  8. Strahl, Antje: Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin im Ersten Weltkrieg. Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2015 (GB)
  9. Alert, Marcus: Viele Verdienste um die Sport-Freunde. 75. Geburtstag von Hans-Dieter Bergann, 4.9.2013, https://www.maz-online.de/Sportbuzzer/Lokalsport/Brandenburg-Havel/Viele-Verdienste-um-die-Sport-Freunde
  10. Karl-Heinz Pagel: Der Landkreis Stolp in Pommern. Zeugnisse seiner deutschen Vergangenheit. Heimatkreise Stadt Stolp und Landkreis Stolp, Lübeck 1989, S. 402-407 (Mit ergänzenen Angaben von Hubert Thrun) (pdf/Stolp.de
  11. Bading, Ingo:  "Ich kann nicht mehr leben in diesem geschändeten Haus, ich helfe mir selbst." Inferno in Zollchow im Mai 1945 - Kultureller Gesichtsverlust der Länder östlich der Elbe bis heute, 2017, https://preussenlebt.blogspot.com/2017/12/ich-kann-nicht-mehr-leben-in-diesem.html

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