Montag, 15. Juli 2019

Unislaw - Ein Dorf im Kulmer Land an der Weichsel

Das westpreußische Dorf Unislaw an der Weichsel in den Jahren 1919 bis 1949
Gliederung:
A. Leben vor 1939
B. Grausamkeiten im September 1939 und danach
C. Die Flucht und die Kämpfe um die Festung Thorn Januar/Februar 1945
D. Hunger, Seuchen, Zwangsarbeit, Grausamkeiten, Deportationen nach Sibirien (bis 1949)

Mit dem Dorf Unislaw (Kulmisch Wenzlau) (Wiki) an der Weichsel  beschäftigte sich der erste Teil dieses Aufsatzes (Preußen lebt) aus dem Anlaß, daß in einer internationalen Archäologie-Zeitschrift von der Ausgrabung einer mittelalterlichen Ordensburg daselbst von Seiten polnischer Archäologen der Universität Thorn berichtet worden war. Der Aufsatz gibt auch nicht andeutungsweise ein Wissen von den schweren Schicksalen der Bewohner dieses Dorfes im Zwanzigsten Jahrhundert kund, und daß diese Bewohner zu mindestens einem Drittel seit der Ordensritterzeit Deutsche waren. Deshalb soll in diesem zweiten Teil einiges über das berichtet werden, was die Bewohner in Unislaw zwischen 1919 und 1949 erlebten. Erst nach längerer Recherche stoßen wir darauf, daß der Westdeutsche Rundfunk im Jahr 2009 eine Dokumentation erstellt hat (4), in der einiges von dem Schicksal des Dorfes Unislaw - aufgrund der Erinnerungen eines ehemaligen deutschen Bewohners (Hanno Henatsch) - sehr unmittelbar zur Sprache kommt. Der Film ist - nicht nur deshalb - sehr bewegend. Er vermittelt auch allgemein einen wertvollen Eindruck von dem Leben und Schicksal der deutschen Minderheit im polnischen Machtbereich in der Zwischenkriegszeit.

Worauf aber auch der Film nur sehr kurz an seinem Ende hinweist, ist wiederum der Umstand, daß fast jeder Ort, der von Deutschen bewohnt worden war östlich der Elbe im Jahr 1945 schwere bis schwerste Schicksale erlebt hat, daß seine Bewohner durch die Hölle auf Erden gegangen sind. All dies sei im folgenden aufgezeigt anhand des Beispiels des Dorfes Unislaw in Westpreußen, soweit dies aufgrund der Quellenlage möglich ist.

In Unislaw gab es eine Zuckerfabrik, die zugleich Kunsthonigfabrik war. Sie war weit über das Dorf hinaus bekannt unter dem Namen "Unamel". Ihr Inhaber war die Familie des Fabrikdirektors Henatsch, des Vaters des schon erwähnten Hanno Henatsch. 

Abb. 1: Der Bahnhof und die Zuckerfabrik von Unislaw - Postkarte, aus der Zeit vor 1914

Die Firma trug in den 1920er Jahren den Namen "Unamel".

Die Familie Henatsch in Unislaw

1919 hieß es in der Chemiker-Zeitung über ihren Inhaber und Fabrikdirektor (siehe Google Bücher):

Dr. Wilhelm Henatsch beging am 1. April sein 25-jähriges Jubiläum als Direktor der Zuckerfabrik Unislaw.

Seit dem 19. Jahrhundert war die Fabrik im Besitz der Familie Henatsch und ging in jener Zeit von Dr. Wilhem Henatsch Vater auf Dr. Wilhelm Henatsch Sohn über. Wilhelm Henatsch Sohn wurde der "König von Unislaw" genannt und war eine eindrucksvolle Unternehmer-Persönlichkeit, wie sich sein Sohn Hanno erinnert (4, 17:30). 1922 erbaute die Familie in Unislaw auch eine prächtige Villa, die heute nicht mehr in einem so schönen Zustand wie damals ist und von polnischen Familien bewohnt wird (4, 18:30).

Aufgrund des Versailler Vertrages kam das Kulmer Land, zu dem Unislaw gehörte, am 20. Januar 1920 ohne Volksabstimmung unter polnische Oberhoheit. Über den Anteil der Nationalitäten im Landkreis Kulm (also im Kulmer Land) ist schon im ersten Teil berichtet worden. 1910 lebten in ihm 28.000 Katholiken neben 20.000 Protestanten (Wiki), wobei fast alle Katholiken Polen und fast alle Protestanten Deutsche waren. Dies war auch schon 1821 so gewesen, als dort 17.000 Katholiken neben 12.000 Protestanten (Wiki) gelebt hatten. Die Deutschen hatten im Land seit Jahrhunderten den wirtschaftlich und kulturell dominierenden Volksteil dargestellt, auch dort, wo sie zahlenmäßig in der Minderheit waren. Auch der Domänenpächter in Unislaw trug 1876 zum Beispiel einen deutschen Namen, ebenso ein anderer Bauer ("Besitzer"). Ein Organist des Dorfes trug einen polnischen Namen (GB).

Der Reichstagswahlkreis Marienwerder, zu dem Unislaw mit dem Kreis Kulm gehörte, hatte bis 1912 in unregelmäßigem Wechsel einmal einen Abgeordneten der Polnischen Fraktion in den Reichstag gewählt, einmal einen Abgeordneten der deutschen Nationalliberalen Partei (Wiki). In Unislaw selbst wurden Dorf und Gut voneinander unterschieden. In beiden gab es jeweils zwei Drittel Polen und ein Drittel Deutsche, im Dorf 247 Polen und 115 Deutsche, auf dem Gut 125 Polen und 45 Deutsche (1, S. 136). Diese Zahlen machen also klar: Dies war nicht nur die Heimat von Polen, sondern seit vielen Jahrhunderten auch die Heimat von Deutschen. Wie weiter unten noch sichtbar wird, gab es im Land selbst viele Polen, die den Deutschen wohlwollend gegenüber standen, ebenso umgekehrt. Oft wurde der Haß zwischen beiden Volksteilen von außen in dieses Land hinein getragen von Seiten von Menschen, die es nicht seit Jahrhunderten gewohnt waren, Tür an Tür mit Menschen einer anderen Volkszugehörigkeit zusammen zu leben.

Abb. 2: Unislaw vor 1914 - Postkarte

Aufgrund der äußeren politischen Verhetzung mußten dann bis 1939 eine Million Deutsche aus dem nun polnischen Machtbereich ihre Heimat verlassen. Auf einem Dorf wie Unislaw konnten die Deutschen in dieser Zeit weitaus weniger leicht verdrängt werden als aus einer Stadt wie Graudenz, wo viele Deutsche zuvor im Staatsdienst gearbeitet hatten, zu dem sie nun vom polnischen Staat nicht mehr zugelassen wurden. 

Es wird berichtet von der zwangsweisen Einschulung der deutschen Kinder in polnische Schulen und von den Schwierigkeiten der Deutschen im Landkreis Kulm, eine deutsche Privatschule betreiben zu können (2). Ebenso gab es von polnischer Seite aus viele Bemühungen, den deutschen Unternehmern das Leben schwer zu machen, um sie zum Verlassen des Landes zu bringen. Aber (5, S. 124):

Auch die ländliche deutsche Industrie will sich nicht unterkriegen lassen. In Unislaw gründet Dr. Wilhelm Andreas Henatsch, Hannos Vater, 1922 eine Fabrik für Kunsthonig, die "Unamel".

In Kulm gelang es, eine Grundschule als deutsche Privatschule betreiben zu können (2). Die Kinder des Fabrikdirktors Dr. Wilhelm Henatsch (1895-1945) und seiner Frau  Elisabeth Henatsch (geb. Böning) (1896-1989) (MyHeritage) wurden aber in den ersten vier Grundschulklassen von einem Hauslehrer unterrichtet. Das Paar hatte 1921 geheiratet und es kamen sechs Kinder auf die Welt, die alle in Unislaw geboren worden waren (Geni, Ancestry): Wilhelm (1922), Johannes (1923), Hanno (1924), Aleit (1926), Sophie (1927) und Christoph (1929).

In der "Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zucker-Industrie" und ähnlichen Zeitschriften wird Wilhelm Henatsch seit 1899 oft erwähnt, wobei es sich zunächst um den Vater, dann den Sohn handeln wird. Beide waren also auch in der Verbandsarbeit der deutschen Zuckerindustrie sehr rührig tätig (siehe Google Bücher). Die Erinnerungen der Familie an die Jahre 1945 und 1946 sind enthalten in der "Dokumentation der Vertreibung" (3), die von Hanno Henatsch auch in der schon genannten WDR-Dokumentation des Jahres 2009 (4-6). In ihr erzählt er vor der Kamera aus seinem Leben (z.B. 4, Minute 3:38):

Die ersten vier Schuljahre haben wir nicht in der polnischen Volksschule absolviert, sondern wurden unterrichtet durch Hauslehrer. Natürlich kam da die polnische Sprache viel zu kurz. Der Hauslehrer, der konnte ja kaum Polnisch.
Abb. 3: Blick in die deutsche Goethe-Schule in Graudenz, eingeweiht 1933, vorne eine Nachbildung der Naumburger Stifterfiguren

Und es wird auch berichtet (5, S. 145):

Ein Landei wie Hanno Henatsch, der 1933 aus Unislaw nach ....

Mit sieben Jahren wurde Hanno Henatsch ab 1933 auf die im selben Jahr eingeweihte, im Bauhaus-Stil errichtete große deutsche Goetheschule nach Graudenz geschickt (4, 11:10). Eine Goetheschülerin berichtet was auch sonst in dem Film deutlich wird, auch anhand der Inneneinrichtung der Goetheschule Abb. 3) (4, 22:55):

Wir waren wirklich deutsch. Und wir waren uns dessen auch bewußt. Ich glaube, wir waren deutscher als die Deutschen im Reich. Und waren es gerne.

Nach der Machtübernahme der NSDAP im Deutschen Reich hat sich diese junge Generation der "Auslandsdeutschen" - wie fast überall in Ostmitteleuropa und auch außerhalb von Europa - zunehmend stärker dem Nationalsozialismus zugewandt. Die deutsche Jugend im polnischen Machtbereich war unter anderem im "Wanderbund" organisiert, der sich immer mehr an der Hitlerjugend orientierte (5, S. 150):

Daß der Wanderbund in diesen Jahren der Hitlerjugend immer ähnlicher wird, können die Zeitzeugen nur bestätigen. "Wir waren die besseren Nazis!" Hanno Henatsch quält die Frage, warum er sich hat verführen lassen, immer noch. "Wahnsinn!" Wer noch ein bisschen Verstand im Kopf gehabt ...

Wenn man sich allerdings die damalige Unterdrückung der Deutschen im polnischen Machtbereich klar macht und ihre Verdrängung aus demselben, wenn man sich zugleich die stark nationalistisch organisierte gleichaltrige polnische Jugend veranschaulicht, dann wird es wohl nicht mehr so schwer sein nachzuvollziehen, daß sich die junge Generation der deutschen Volksgruppe innerlich einer Bewegung innerhalb des Reiches zugewandt hat, die für eine machtvolle deutsche Außenpolitik einstand. Die Lage für die deutsche Volksgruppe im polnischen Machtbereich konnte sich dadurch allerdings insgesamt nicht verbessern, im Gegenteil. Und das war auch vielen älteren Angehörigen der deutschen Volksgruppe bewußt, die oft zur Mäßigung rieten. All diese Entwicklungen sollten dann bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die schrecklichsten Folgen nach sich ziehen.

September 1939 - Unislaw erlebt die Verschleppungsmärsche der Deutschen

Im September 1939, bei Kriegsbeginn kam es zur Verschleppung und Ermordung tausender von Angehörigen der deutschen Volksgruppe im polnischen Machtbereich. Diese Vorgänge gingen in die Geschichte ein unter dem Schlagwort vom "Bromberger Blutsonntag", weil die deutsche Wehrmacht hier erstmals auf dieses Geschehen stieß und weil das dortige Geschehen sofort von der Propaganda des Deutschen Reiches ausgeschlachtet wurde. Diese Vorgänge spielten sich aber in ganz Polen ab, nicht nur in Bromberg. Zunächst waren die führenden Angehörigen der deutschen Volksgruppe von den polnischen Behörden interniert worden. Sie sollten schließlich in ein großes Konzentrationslager für Deutsche bei Warschau überführt werden (2, S. 281f):

Seit März 1939 verschärften sich die antideutschen Maßnahmen der Behörden. Durch Verweigerung von Zahlungsaufschüben und rücksichtslose Pfändung zwecks Steuereintreibung wurde deutschen Firmen die Existenzgrundlage entzogen, so auch der Kunsthonigfirma "Unamel" des Dr. Henatsch in Unislaw. (...) Mit Kriegsausbruch setzte die Verhaftungswelle ein und dauerte bis zum 2. 9. an. Am 1. 9. wurden die Gefängnisse geöffnet. Am Abend befahl der Starost den Polizeistationen, die "entlassenen Häftlinge deutscher Nationalität sofort festzunehmen und in Richtung Unislaw zu dirigieren". Die Verhafteten wurden, da keine Bahnverbindung mehr vorhanden war, meist gefesselt über Unislaw - wo sie mit den Graudenzer zusammentrafen - nach Thorn gebracht. Hierher kamen auch die Internierten aus anderen Kreisen. Von Thorn aus mußten sie entweder am Verschleppungsmarch nach Lowitsch oder nach Warschau teilnehmen.

Ein Verschlepptenzug von 43 "führenden" Angehörigen der deutschen Minderheit aus dem Kreis Schwetz Richtung Warschau kam ebenfalls durch Unislaw und wurde dann über Thorn Richtung Lowitsch dirigiert. Schwetz liegt am linken Flußufer der Weichsel gegenüber von Kulm. Es sei hier auszugsweise zitiert, was ein Teilnehmer dieses Zuges, der Schwetzer Arzt Dr. med. Studzinski, über diesen grauenhaften Marsch, über die vielen Gewalttaten, Erschießungen und Massaker, die diesen Zug begleiteten, gleich nach seiner Befreiung durch die Wehrmacht, also noch 1939 aufgeschrieben hat. Studzinski war zunächst in Einzelhaft genommen worden, wurde dann aber nach und nach mit anderen Verhafteten zusammen gebracht (7):

.... Wir machten von jetzt ab gemeinsam den Höllenmarsch in treuer Kameradschaft  bis nach Lowitsch mit; es war bei unserem Abmarsch der 2. September. Alte Herren über 70 Jahre, schwer Herzkranke, sie waren dabei, es gab kein Erbarmen. Unser Senior, Herr Schulz aus Dragaß, hatte sage und schreibe ein Alter von 82 Jahren. Über die Schwarzwasser-Brücke zwischen der Ordensburg des Heinrich von Plauen und der Ordenskirche, ging dann dieser Zug, bewacht von Polizei und Hilfspolizei nach der Kulmer Fähre. (...) Wir hörten von der Beschießung von Graudenz und langsam stieg die Hoffnung in uns auf, daß wir vielleicht nicht mehr über die Weichsel kommen würden. Doch (...) ein Dampfer mit Prahm setzte uns über. Es ging durch die Stadt  Kulm bis zum dortigen Landratsamt. (...) Hier bei dem Spießrutenlaufen durch die Stadt bekamen wir zum ersten Male die unflätigsten Beschimpfungen und Schmähungen der Bevölkerung zu spüren. "Schlagt doch die  deutschen Hunde tot! Wozu transportiert ihr die deutschen Schweine noch weiter? Jagt sie doch in  die Weichsel!" So geiferte die wilde Horde. (...) Auf der Chaussee nach Unislaw ging es weiter bis zu einem Bahnhof. (...) Dann wurden deutsche Bauernwagen requiriert, auf denen wir bis Unislaw fuhren. (...) Durch Unislaw wurden wir wieder beschimpft, dann auf dem Bahnhof in aller Eile verladen, und weiter ging es per Bahn nach Thorn. Bekamen wir in Kulm und Unislaw schon Schmähungen und Beschimpfungen zu hören, so steigerte sich dieses abscheuliche Betragen der Bevölkerung in Thorn um ein Bedeutendes. Hier gab es schon neben Flüchen Fußtritte und Steinwürfe. (...) Nach zwölfstündigem Marsch zogen wir halbverdurstet in Alexandrowo ein, liefen Spießruten durch die ganze Stadt, wurden beschimpft, mit Steinen beworfen. (...) Am Morgen des 4. September 1939 wurden wir dann in Richtung  Wloclawek in zwei Viehwagen verladen (...), wo wir wieder Spießruten durch die Stadt laufen mußten. (...) Schon in  der Stadt begann neben dem unglaublichsten Beschimpfen das Mißhandeln. Steinwürfe, Kolbenschläge bekam jeder von uns. Mit unglaublicher Roheit wurde Kamerad Alfred Werner aus Groß-Sanskau zerschlagen, nach ihm kam ich an die Reihe. Eine nach meiner Erinnerung in Briefträgeruniform gekleidete Bestie schlug mir ins rechte Auge, man erzählte mir später, er soll mit einem Hammer geschlagen haben. Dies war das Signal für die übrigen, nun ihrerseits mit Kolben auf mich einzuschlagen. Ins Gesicht, auf den Kopf traf man mich, ich brach auf der anderen Seite  der Chaussee bewußtlos zusammen, wälzte mich auf der Straße, wurde durch rohe Stöße mit Gewehrläufen in Bauch, Brust und Rücken zum Bewußtsein gebracht und mit repetiertem Gewehr bedroht, erschossen zu werden, falls ich nicht sofort weiterlief. Der Selbsterhaltungstrieb gab mir die Kraft, aufzuspringen, ich ging wieder in Reih und Glied und  merkte nun, daß mein Gesicht, mein Hemd, mein Anzug von Blut überlaufen war, daß das linke Auge gänzlich zugeschwollen war, und daß ich keine Sehkraft mehr darauf hatte. Das rechte Auge war auch halb zugeschlagen, die Sehkraft herabgesetzt. In diesem Zustand mußte ich noch weitere 30 Kilometer marschieren. (...) Alle diese Wunden werden heilen, aber bluten wird stets unser armes Herz über den Verlust unserer lieben, erschlagenen und erschossenen Kameraden auf diesem Höllenmarsch von Wloclawek.

Mindestens fünf Männer der 43 dieses Zuges sind dann erschlagen oder erschossen worden. Aber das reichte nicht. In der Zuckerfabrik Chodzen, wo mehrere solcher deutscher Verschlepptenzüge gesammelt wurden, ging es weiter:

In diesem Moment schlug die vertierte Bande mit Gewehrkolben auf uns arme, wehrlose Menschen ein. Ein entsetzliches Geschrei, ein einziges Stöhnen war zu hören. Wir lagen zusammengeschlagen am Boden. Als wir allmählich zu uns kamen, merkten wir, daß alle am Leben waren. (...) Leidensgenossen aus den Kreisen Graudenz, Strasburg, Hohensalza und aus anderen Kreisen konnten wir begrüßen. Schätzungsweise lagen in diesem Schuppen 800 Mann, Männer und Frauen. (...) In aller  Frühe des 7. September mußten wir dann in fünf Kolonnen zu je 800 Mann antreten und wurden über Chodecz nach Kutno weitergetrieben.

Dabei wurden alle erschossen, die nicht weiter gehen konnten. Hinter Lowitsch wurden die Verschlepptenzüge dann von der deutschen Wehrmacht eingeholt und befreit. Der Historiker Hugo Rasmus zählt - aufgrund der Vorarbeiten von Oberstudienrat Dr. August Müller (1895-1989) (Am) - in seinem Buch 43 Deutsche des Landkreises Kulm namentlich auf, die im Zuge dieser September-Ereignisse ermordet wurden (2).

Herbst 1939 - Der deutsche "Selbstschutz" unternimmt Strafaktionen und Hinrichtungen

Wie ging es weiter (2, S. 283):

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 1939 setzte das II. deutsche Korps südwestlich Kulm bei Tolpolno am westlichen Weichselufer über den Strom und nahm die Masse des Kreisgebietes Kulm mit der Kreisstadt in Besitz. 

Die ansässige deutsche Bevölkerung hatte die Hölle durchlebt und brauchte Tage, Wochen und Monate, um das Geschehene zu verarbeiten. Familien mußten sich erst wieder finden - und oftmals blieben Angehörige vermißt. Auf der anderen Seite gab es die große Freude und Erleichterung darüber, nun zum Deutschen Reich zu gehören. Die vielen Ermordungen von Deutschen riefen nun deutsche Standgerichte hervor, die insbesondere von Seiten des "Deutschen Selbstschutzes" betrieben wurden. Dieser erschoß drei polnische Männer in den Wäldern bei Raciniewo in der Gemeinde Unislaw (8, S. 221). Männer polnischer Volkszugehörigkeit aus Unislaw waren auch unter 220 Männern, die in Plutowo und unter 400, die in Male Czyste erschossen wurden (8, S. 221). Ob es auch in Unislaw zu Aussiedlungen von Polen kam und zur Ansiedlung von deutschen Rücksiedlern (aus dem Baltikum oder aus Wolhynien oder anderwärts) muß einstweilen dahin stehen. Im Film heißt es (39:30):

Hanno Henatsch und sein Freund Erich Abramowski machen Abitur. Und sie müssen bald danach als deutsche Soldaten in den Krieg. Über hundert Jungen aus der Goethe-Schule werden nicht zurückkehren.

1942 wurde Unislaw offiziell in Kulmisch Wenzlau umbenannt (9).

Abb. 3: General Otto-Joachim Lüdecke, Mai 1944, rückseitig beschriftet mit "Mein Patient General Lüdecke in Agram im Mai 1944" - Lüdecke sollte 1945 zum Festungskommandanten von Thorn ernannt werden

1943 entstand noch einmal ein Farbfilm über die landschaftlichen und kulturellen Schönheiten des Weichsellandes. Es ist ein Film voller Ruhe und Gelassenheit. In ihm wird auch die Stadt Kulm an der Weichsel gezeigt.

1943/44 - Letzte Filmaufnahmen des Weichsellandes aus deutscher Zeit

Während des Zweiten Weltkrieges leisteten in der Kunsthonigfabrik, bzw. Zuckerfabrik von Unislaw (bzw. Kulmisch Wenzlau) Polen aus Kulm Zwangsarbeit (10, 11). Im August 1944 reisten deutsche Studenten der Universität Danzig zum Stellungsbau ins Weichselland und dabei entstanden private Filmaufnahmen (Kronberg):

Private Aufnahmen gefilmt von Werner Kronenberg, damals Student an der Technischen Hochschule in Danzig, als "studentischer" Teilzeitsoldat eingesetzt in Frankreich, auf dem Balkan und bei der Invasion in die UdSSR. Im August 1944 werden Studenten aus Danzig zu Schanzarbeiten nach Westpreußen beordert. Kulm an der Weichsel, Weiterfahrt mit dem Autobus nach Marienwerder, Schloßbesichtigung kurz, Marienburg: Die Burg, Bahnhof und Ort Gartsch, Bahnsteig, Wartende, von dort Spaziergang in Umgebung, Wiesen Felder, junge Frauen als Begleitung, Spaziergang Fortsetzung, Zugfahrt.
Insert: Der Feind bedroht die deutschen Grenzen von Osten, Schanzarbeiten der Studenten der Technischen Hochschule Danzig in Gollub an der Drewens, 9. August 1944, Abfahrt in Danzig, Zug über Graudenz, Marienburg nach Gollup, männliche und weibliche Studierende mit Gepäck, Burg, Ortsname Elgers, gemeinsames Kartoffelschälen im Freien, an der Drewenz, Idylle, Küken, Kühe auf der Weide, Leibisch, Schule Kroppen, Schanzarbeiten mit Schaufel und Hacke, Ausheben Schützengräben, Erklärung im Film: Wie ein Graben entsteht: Systhematisch gefilmt. Zug zurück nach Danzig.
Abb. 4: Die Angriffsspitzen der Roten Armee erreichen die Weichsel bei Thorn und Kulm, um den 23. Januar 1945 (aus: Schäufler)

Am 12. Januar 1945 begann der Großangriff der Russen auf den Weichselbogen (Wiki) und auf Ostpreußen.

12. Januar 1945 - Die Rote Armee tritt an zum Großangriff auf Europa 

Am selben Tag waren die Henatsch's noch bei der großen Hasenjagd auf dem Gut der Familie Abramowski. Über die Gefahr, daß sie Russen angreifen könnten, sprach niemand (Film 40:40). 

Die deutschen Behörden in Ost- und Westpreußen gaben viel zu spät die Befehle zum Räumen und zum Trecken nach Westen. Wer vorher zu fliehen versuchte, wurde oft schwer bestraft. 

Als der Treckbefehl schließlich kam, konnten sich viele Deutsche nicht zur Flucht entschließen.

21. Januar 1945 - Thorn und Graudenz werden zur Festung erklärt

Am 21. Januar 1945 durchbrachen die Russen den äußeren, nur schwach besetzten Sicherungsring von Thorn, sowie die so gut wie gar nicht besetzte Drewenzstellung nordöstlich von Thorn (Lüdecke). Thorn liegt auf dem Nordufer der Weichsel, knapp 30 Kilometer südlich von Unislaw. Adolf Hitler befahl die Ablösung des Festungskommandanten von Thorn. Sein Nachfolger, der General Otto-Joachim Lüdecke (1894-1971) (Wiki), der 1943 das Ritterkreuz erhalten hatte, erhielt die Anweisung (Lüdecke):

ich solle umgehend den Festungskommandanten ablösen und in Thorn die Lage wieder herstellen, Thorn sei ein ganz besonders wichtiger Eckpfeiler und müsse unter allen Umständen bis zum letzten Mann gehalten werden.
Lüdecke berichtet weiter:
Ich begab mich sofort von Danzig im PKW nach Thorn. Von Marienburg ab über Graudenz - Culmsee waren die Strassen völlig verstopft von zurückflutenden Trecks, die die Weichsel hinter sich zu bringen bestrebt waren.
Fabrikdirektor Wilhelm Henatsch, der Vater des damals 21-jährigen Hanno Henatsch in Unislaw, konnte sich in diesen Tagen nicht zum Trecken entschließen (5, S. 177):
Es dauert etwa eine Stunde, bis Hanno Henatsch das Szenario vor unseren Augen ausgebreitet hat: eine Situation auf Leben und Tod, in der er, der einunzwanzigjährige Hanno, seinem Vater Contra gibt: "Das ist unser Todesurteil!" Noch heute muß er ....
Und über den weiteren Verlauf der Ereignisse (5, S. 178):
Jetzt ist es Hanno Henatsch, der drängt und den weinenden Freund zur Umkehr bewegt. "Jemandem in einer Grenzsituation einen Rat geben, das darf man nicht. Da spielen Leute Schicksal. Das darf man nicht!" (...) Für Unislaw hatten die Behörden nach langem Zögern Treckbefehl erteilt, und dagegen setzte er einen Gegentreckbefehl. Allgemeine Verwirrung? Der Vater verleugnete offensichtlich die Wirklichkeit. Die Ehefrau, zwei Töchter und zwei Söhne waren noch in Unislaw, es ging nicht nur um ... Über sechzig Jahre, sagt Hanno Henatsch, quälte er sich damit herum. Und er werde diese Frage mit ins Grab nehmen. Was mag seinen damals fünfzigjährigen Vater bewegt haben? Heimatliebe? Woanders zu leben, hat er sich vermutlich nicht vorstellen können. Heldentum? Wollte er diesmal nicht "feige ...
Warum sich Hanno Henatsch bis zu seinem Lebensende mit dieser Frage herumquält, wird verständlich, wenn man von den Folgeereignissen erfährt. Im Film sagt er (42:00):
Meine Mutter sagte: Kannst du nicht die Schwester noch mitnehmen auf dem Motorrad?

Da er leicht verletzt war, wollte er das auf den vereisten Straßen in der Kälte nicht riskieren.

Abb. 5: Der Ausbruch der deutschen Festungsbesatzung aus Thorn, 5. Februar 1945 (aus Schäufler)

Lüdecke berichtet weiter:

Es fehlte überall an Straßenkommandanten, die mit ihren Organen die Verstopfungen zu entwirren in der Lage gewesen wären. Auf diese Weise kam ich erst am 22.1. gegen 23 Uhr in Thorn an und übernahm noch in der Nacht den Befehl.
Lüdecke:
Von den zugesagten 2 weiteren Divisionen meldete sich im Verlauf des 23.1. eine stark angeschlagene Division - 7l. (?) Division unter Führung des Generalmajors Schlieper - die aus der Kampfgegend von Warschau kam und deren Nachhuten in Fühlung mit den nachdrängenden Russen standen.
Lüdecke:
Die Angriffe der Russen auf Thorn waren (anfangs) nicht als ernst zu bezeichnen. Er stieß ohne Rücksicht auf diesen "Eckpfeiler" südlich und nördlich durch. Südlich auf Bromberg und Posen - vor Bromberg stand er am 23.1., vor Posen am 24.1. - nördlich auf Kulm und Graudenz. Er überschritt die Weichsel südlich Kulm bei Topolno meines Wissens am 25.1.
Topolno liegt auf der westlichen Weichselseite gegenüber von Kokocko. Letzteres liegt zehn Kilometer nördlich von Unislaw. Lüdecke weiter:
Nakel und Bromberg fielen am 23.1. in seine Hand. Die im Ausbau befindliche Netzestellung war nicht besetzt, abgesehen von schwachen Sicherungen, die an den Hauptübergängen behelfsmässig zusammengezogen waren. Bromberg selbst wurde verteidigt und umkämpft, ebenso Fordon, wie engere Umgebung der Weichselbrücke. Beide wichtigen Punkte wurden aber vom Russen von Westen umgangen, der von der Netze aus in nördlicher Richtung auf die Ostsee vorstieß mit dem Ziel, die in Ost- und Westpreußen befindlichen Kräfte einzukesseln und ihnen ein zweites Kurland zu bereiten.
Am 23. Januar stießen die Russen auch an Graudenz, Marienwerder und der Marienburg vorbei bis nach Elbing an der Ostsee vor. Lüdecke weiter:
Am 25.1. hatte sich der russische Belagerungsring um Thorn geschlossen.
Dies war auch der Tag, an dem die Russen Unislaw besetzten. Nach dem Einbruch der Russen in den Ort Unislaw am 25. Januar 1945 wurden die Dorfbewohner in einer Baracke der Zuckerfabrik zusammen getrieben. Die Stadt Kulm ist am 27. Januar 1945 von der Roten Armee eingenommen worden. Der damals 15-jährige J. Henatsch berichtet über seinen Vater, sich selbst und seine damals 19-jährige Schwester A. Henatsch (3, S. 3):
Am 25. Januar 1945 brachen die Russen in mein Heimatdorf ein. Sie belegten unser Haus und begannen bald mit ihren Vernehmungen. Mein Vater wurde zuerst abgeführt; am 29. Januar abends erschienen vier Soldaten, die meine Schwester A. und eine Stunde später zwei Soldaten, die mich in die Gefangenschaft brachten. Wir kamen in ein Haus im Dorf, in dem schon eine Anzahl Deutsche, eingedeutschte Polen und Nationalpolen saßen.
Von Elisabeth Henatsch, der Mutter von Hanno Henatsch, sowie von ihrem Sohn J. Henatsch liegen Erlebnisberichte vor, von ersterer (6):
Im polnischen Durchgangslager Kulm und bei der Zwangsarbeit: Ein amtlich beglaubigter, sechsseitiger maschinenschriftlicher Bericht von Dr. Elisabeth Henatsch aus Unislaw/Kr. Kulm vom März 1946.
Dieser Bericht ist offensichtlich identisch mit einem entsprechenden - allerdings anonymisierten - in der "Dokumentation der Vertreibung" (3, S. 501-506). (Anonymisiert sicherlich, weil sich noch Familienangehörige in sowjetischen Arbeitslagern befanden.) Elisabeth Henatsch, die Mutter von J. und A. Henatsch, berichtet (3, S. 501):
Die Russen (...) nahmen in den ersten Tagen eine große Anzahl Männer und Frauen (Deutsche, eingedeutschte Polen und Nationalpolen) gefangen und führten sie am 1. Februar 1945 nach Rußland ab.
In einer Anmerkung wird dazu zusammenfassend berichtet (3, S. 501):
Im Zuge dieser Zwangsdeportation wurde auch der 15jährige Sohn der Verfasserin nach Rußland verschleppt, im Herbst 1945 schwerkrank entlassen, und ihre 19jährige Tochter, die im Sommer 1946 in einem russischen Zwangsarbeitslager starb. - Der Ehemann der Verfasserin, nach dem Russeneinbruch in Zivilgefangenschaft abgeführt, wurde vor dem Abtransport bei einem Fluchtversuch erschossen.

Dieses Geschehen bildet also den Hintergrund dafür, daß Hanno Henatsch, ein weiterer Sohn von Elisabeth Henatsch, sich bis an sein Lebensende mit der Frage herum schlug, warum sein Vater den Gegentreckbefehl gegeben hatte. - Die in Unislaw zurück gebliebenen Dorfbewohner erlebten nun die sich noch tagelang hinziehenden Kämpfe um den Ort (3, S. 506), die sich aus dem Ausbruchversuch der Festungsbesatzung Thorn entlang des Ostufers der Weichsel ergab.

2. Februar 1945 - Ausbruch der Deutschen aus Thorn Richtung Kulm

Lüdecke berichtet darüber:

In der Nacht vom 31.l./l.2. ging ein Funkbefehl des O.K.H. in Thorn ein, etwa folgenden Inhalts: "Operative Lage erfordert sofortigen Durchbruch. Erreichen der eigenen Linien Waldungen nördlich Krone/Brahe. Eile geboten. Absichten unter Mitnahme deutscher Zivilbevölkerung und Verwundeter sowie möglichen Zeitpunkt des Antretens funken."
Krone/Brahe heißt heute Wałcz. Der Ausbruchversuch war folgendermaßen geplant (Lüdecke):
Die Absicht war, auf kürzestem Wege nördlich Fordon die Weichsel zu überschreiten und das Ziel nördlich Krone zu erreichen. (...) Starker Frost und hohe Schneelage erschwerten das Unternehmen erheblich.

Fordon ist ein Vorort von Bromberg und liegt 20 Kilometer südwestlich von Unislaw auf dem Westufer der Weichsel. Zu gleicher Zeit wurde aber Graudenz, nördlich von Kulm gelegen, noch bis zum 6. März 1945 verteidigt (Wiki) (darüber berichtet Lew Kopelew in seinen Erinnerungen). Über den weiteren Verlauf ist berichtet worden anhand des Berichtes von Lüdecke (Thorwald, S. 266):

Am 2. Februar trat General Lüdecke aus Thorn heraus zum Durchbruch nach Westen an. Er hatte drei Angriffsgruppen formiert. Bei der mittleren Angriffsgruppe befanden sich die Zivilbevölkerung und Verwundete. Es lag hoher Schnee. Es herrschte starker Frost. (...) Lüdeckes Kolonnen kämpften sich bis zum Abend bis zum Raum zehn Kilometer östlich Fordon vor. (...) Jetzt sollte Lüdecke nach Norden abdrehen, die Weichsel südlich Kulm überschreiten und die Linien der 2. Armee bei Schwetz erreichen. Am 5. Februar gelang es einzelnen Teilen, das Eis der Weichsel südlich von Kulm zu überqueren.

Kulm liegt 17 Kilometer nördlich von Unislaw. Diese Ausbruchkämpfe spielten sich also in der Weichselniederung westlich von Unislaw ab. Über dieselben Vorgänge gibt es auch einen Bericht aus polnischer Sicht, von Seiten eines Stefaniak, der damals in Kulm lebte:

Mitte Februar (? gemeint ist wohl eher: Anfang Februar) versuchten Gruppen versprengter Wehrmachtssoldaten aus dem Raum Thorn, bei Kulm über die Weichsel zu setzen und sich weiter zur noch von den Deutschen kontrollierten Ostseeküste bei Danzig durchzuschlagen. Eine Sowjetoffizierin im Rang eines Hauptmanns, die das südlich der Altstadt von Kulm gelegene und mit verletzten Rotarmisten voll belegte Krankenhaus leitete, organisierte die Verteidigungsmaßnahmen. Stefaniak nahm in der Nähe des Krankenhauses und an der ul. Toruńska an dem vierstündigen Feuergefecht mit den deutschen Soldaten teil, die schließlich abgewehrt wurden und sich einen Weg zur Weichsel abseits der Stadt suchen mußten. Der Autor beobachtete, wie kleine und größere Wehrmachtseinheiten versuchten, südlich von Kulm die zugefrorene Weichsel in Richtung Gruczno zu überqueren. Die sowjetische Artillerie beschoß stundenlang die deutschen Soldaten vom hoch über dem Weichseltal gelegenen Kasernengelände in Kulm aus und zwang diese zu einer verzweifelten Flucht. Auch in den nächsten Tagen wurden noch Gruppen deutscher Soldaten aufgegriffen, die aus dem belagerten Graudenz entkommen waren.
Weiter (Thorwald):
Am 7. Februar erreichten etwa 19.000 von den 32.000 Soldaten und Zivilisten, die aus Thorn ausgebrochen waren, die nur noch mit Mühe gehaltene Front der 2. Armee bei Schwetz.

Viele deutsche Soldaten gerieten also in Gefangenschaft. Frau Mollzahn aus Unislaw war nach dem Ende der Kämpfe wieder in ihre Wohnung dicht neben der Zuckerfabrik zurückgekehrt. Sie berichtet davon, daß in dieser Zuckerfabrik hunderte von deutschen Kriegsgefangenen gesammelt und von dort weiter transportiert wurden.

Februar 1945 - Aufräumarbeiten in Unislaw

Bei der Schilderung der weiteren Ereignisse über das Schicksal der deutschen Bewohner von Unislaw decken sich der Bericht von Elisabeth Henatsch und Annemarie Mollzahn, das heißt, alle verbliebenen deutschen Einwohner des Ortes - 150 bis 200 Frauen, alte Männer und Kinder - haben im Frühjahr 1945 ähnliches erlebt, nämlich Mitte März ihre gemeinsame Verschleppung nach Thorn und dann einen Leidensmarsch von dort zurück nach Unislaw. Mitte März wurden die Deutschen des Ortes, in der Fabrik zusammen getrieben. Elisabeth Henatsch berichtet, daß sie zunächst in den Baracken der Zuckerfabrik lebten (3),

wo sie im April alle in polnische Gefangenschaft überführt wurden, das heißt, ab Ostern 1945 kamen alle Deutschen ausnahmslos in ein Lager, das der polnischen Miliz unterstellt war. Sie mußten vom Lager aus Zwangsarbeit verrichten, die zunächst in Aufräumungsarbeiten bestand. Das Dorf und die Weichselniederung besonders waren durch Russeneinbruch und Krieg verwüstet. Es mußten Tote geborgen, Pferdeleichen begraben, Munition und Kriegsgerät aller Art fortgeschafft, Straßen und Wege freigelegt und die Häuser gesäubert werden. Das geschah anfangs unter Aufsicht der Russen, später unter polnischer Miliz. (...) Das Barackenleben wurde dadurch besonders unerträglich, ja gefährlich, da allnächtlich russische Soldaten zum Plündern und Vergewaltigen der Frauen und Mädchen einbrachen. Wir erlebten Szenen der Hölle. Die polnische Miliz konnte oder wollte uns nicht schützen. (...) Mitte April kam ein Befehl zur Sammlung aller Gefangenen ringsum zum Zwecke des Abtransportes. Wohin? Keiner wollte es uns sagen.

Die Internierten wurden mit dem Zug nach Thorn transportiert, wobei schon auf dem Transport alte Menschen und Kranke starben. 

Mitte April - Wegführung der Deutschen aus Unislaw nach Thorn und Rückmarsch

In Thorn wurden sie in der Ruine eines Krankenhauses eingepfercht. Auch dort kam es wieder zu Vergewaltigungen wie Frau Mollzahn berichtet (3):

So hausten wir drei Tage und Nächte, es war ein Geschrei Tag und Nacht. Frauen und Mädchen wurden von den Russen rausgeholt und vergewaltigt. Da lernte ich die Hunde erst kennen, da ich selbst die Tage viel durchgemacht habe.
Sie mußten dann wieder zu Fuß die 30 Kilometer von Thorn nach Unislaw zurückkehren. Frau Mollzahn (3):
Der Marsch dauerte drei Tage, weil wir schon alle müde und heruntergekommen waren.
Frau Henatsch (3):
Also setzte sich unser trauriger Zug in Bewegung: er bestand vor allem aus Müttern mit Kindern, eine Reihe Säuglinge waren dabei. (...) Es regnete, schneite und stürmte - Aprilwetter -, Menschen und Gepäck waren gänzlich durchnäßt, doch waren das Glück und die Dankbarkeit, der Verschleppung nach Rußland entkommen zu sein, so groß, daß einer dem anderne durch die langen Reihen des Zuges zuflüsterte: "Der Herr hat's nicht gewollt."
Fast alle Kinder wurden durch die Kälte und Feuchtigkeit während dieses Marsches krank, viele von ihnen sollten in den nächsten Wochen daran sterben. Frau Mollzahn konnte auf diesem Weg noch einmal ihren väterlichen Hof in Luben besuchen, wo sie durchkamen. Dort lebten aber schon Polen. Frau Mollzahn weiter (3):
Am nächsten Tag in Unislaw wieder angelangt wurden wir in den Kindergarten getrieben. Dann gingen wir erstmal was zu essen betteln. Wer aus Unislaw war, bekam auch was. 
Frau Henatsch (3):
In unser Dorf zurückgekehrt, wurden wir alles andere als willkommen aufgenommen. (...) Man übergab uns einem Durchgangslager in Kulm.

Schließlich wurden die Deutschen aus Unislaw nach Kulm verfrachtet, wo im Gefängnishof hunderte von Deutschen gesammelt wurden.

April 1945 - Die Deutschen aus Unislaw im Gefängnishof in Kulm

Schon hier wurden die Kinder von ihren Müttern und Familien kurzzeitig getrennt, auch die Säuglinge. Die Menschen wurden von der polnischen Geheimpolizei verhört wie Frau Henatsch berichtet (3):

Diese Zeit in Kulm gehört zu meinen schrecklichsten Erinnerungen. (...) Im "Ressort" (der Geheimpolizei) saßen junge Menschen im Alter von 20 bis 25 Jahren etwa. (...) Als ich dort das Zimmer betrat, noch bevor ich nach meinen Personalien gefragt wurde, versetzte mir ein junger Mann ein paar Schläge ins Gesicht, ein anderer traf mich von hinten, der Gummiknüppel flog an meinen Kopf, ich wurde am Hals gepackt, über einen Stuhl gebeugt zum Durchprügeln. (...) Ich betone, es handelte sich um Frauen, von denen man nicht wußte, wer sie waren, wie sie hießen. (...) Wer diese furchtbare Untersuchung hinter sich hatte, kam zur Zwangsarbeit. Draußen auf dem Gefängnishof warteten schon polnische Bauern und polnische landwirtschaftliche Beamte, die uns zur Landarbeit haben wollten. Es war wie auf einem Sklavenmarkt.

Frauen wie Frau Mollzahn, die drei Kinder hatten, wollte auf dem "Sklavenmarkt" niemand haben. 

Verteilung der Deutschen auf die umliegenden Güter zur Zwangsarbeit

Sie gelangte dann auf das Gut Napolle bei Baiersee (Wiki), sieben Kilometer nordöstlich von Unislaw (3):

Der Gutsverwalter, ein eingedeutschter Pole, früher Stellvertreter des Amtskommissars in Unislaw, nahm uns am anderen Morgen in Empfang. Da er uns ja bekannt war, zwangen wir ihn gleich, für Essen zu sorgen. (...) Das Land war zum größten Teil parzelliert, das Vieh hatte der Russe alles auf das Gut Schönborn bei Unislaw getrieben.
Frau Henatsch berichtet (3):
Ich kam mit sechs Frauen und einem Mann auf das Gut Wichorze von Freunden - von Loga, die der Krieg verschlungen hatte - zur Arbeit. Da von Loga seiner Zeit die Polen gut behandelt hatte, hatten wir es auch nicht schlecht.

Aus den Berichten beider Frauen schimmert durch, daß das Verhältnis der Deutschen und Polen vor Ort viele Jahrzehnte lang ein gutes war, sprich, daß erst die Verhetzung in die Volksteile eher von außen hinein getragen werden mußte, damit so schlimme Ereignisse statthaben konnten wie zsichen 1939 und 1949.

Anfang Juni 1945 wurde Frau Mollzahn dann mit ihren drei Kindern über Kulm nach dem Gut Wrotzlawken (Wroclawki, 1942-1945 Atzmannsdorf) (Wiki) getrieben. Dort arbeitete sie bis zu ihrer Ausweisung im Mai 1949. Rittergutsbesitzer war im 19. Jahrhundert eine Familie Petersen. Das Gutsdorf liegt 18 Kilometer nordöstlich von Unislaw. - Frau Henatsch kam ebenfalls nach wenigen Wochen nach Kulm zurück, mußte aber daselbst im Konzentrationslager verbleiben, das in Baracken des vormaligen Reichsarbeitsdienstes eingerichtet worden war (3):

Im Lager wurden wir schrecklich angebrüllt. Die Bezeichnung für Frauen und Mädchen war "Hitlerhure".
Dort starben die alten Menschen zurerst an Hunger. Frau Henatsch kam dann doch wieder zu einem polnischen Bauern, der aber sehr deutschfeindlich war, und bei dem sie, obwohl ihr die Landarbeit ganz ungewohnt war, sehr schwer arbeiten mußte. Im November kam sie nach Kulm und sollte von dort nach Potulice, in das Konzentrationslager für Deutsche in Westpreußen verbracht werden, von dem man nur das Schlimmste gehört hatte (3):
Unser alter polnischer Dorfpfarrer, den mein Mann 1939 aus dem Gefängnis befreut und vor dem Selbstschutz bewahrt hatte, hatte einen Antrag für mich eingereicht auf Ausreise ins Reich zu meinen Kindern. Seine Verwandten nahmen mich gütevoll auf. Ich wurde vier Wochen im polnischen Pfarrhaus versteckt gehalten bei bester Behandlung mit großer Noblesse, bis dieser Antrag genehmigt undich offizeill aus polnischer Gefangenschaft entlassen wurde: das war am 23. Dezember 1945.
In Küstrin wurden alle ausreisenden Deutschen schlimm zugerichtet und ausgeplündert (3):
Von Berlin bin ich mit einem Flüchtlingstransport im Januar 1946 nach Bayern gekommen, wo ich meine drei jüngsten Kindern nach einem Jahr der Ungewißheit und des Vermissens fand. Meine drei ältesten Kinder befinden sich noch in russischer Gefangenschaft,
so schrieb Elisabeth Henatsch 1946. Ihr deportierter Sohn J. H. berichtet von vielen schlimmen Erlebnissen während seiner Zwangsarbeit in Rußland (3, S. 3ff):
Fast zwei Drittel von 53 aus unserer Gemeinde Verschleppten sind gestorben. Sehr hoch war die Sterblichkeit der Verschleppten aus Kulmsee. Von 80 Personen blieben weniger als 10 am Leben.
Es mußte gefälltes Holz transportiert werden:
Ich war oft krank und elend, magerter sehr ab, litt an geschwollenen Beinen und war zuletzt so wenig arbeitsfähig, daß ich (...) am 26. August entlassen wurde, weil ich über drei Monate im Lazarett hatte zubringen müssen. Nach 18tägiger Bahnfahrt wurden wir in Frankfurt/Oder endgültig entlassen. Meine Schwester A. mußte ich im Lager zurücklassen. Sie hatte dort eine Stelle als Waschfrau inne. (...) Ich war im Lager fast täglich mit ihr zusammen. Sie überstand die Arbeit besser als ich. Da sie nicht erkrankte, kam eine Entlassung für sie nicht in Frage. Ich warte jetzt auf sie und hoffe, daß ich auch recht bald einmal wiederkommen wird.

In der Anmerkung dazu wird aber festgehalten, daß sie noch im selben Sommer in Rußland gestorben ist.

1946 bis 1949 - Die Kinder der Deutschen kamen ins Kinderheim

Frau Mollzahn mußte noch drei weitere Jahre auf Gut Wrotzlawken arbeiten. Dort wurden ihr  1946 sogar zwangsweise ihre drei - bei der Arbeit auf dem Gut störenden - Kinder weggenommen und in ein polnisches Kinderheim gegeben. Die Kinder waren zwischen vier und zehn Jahre alt. Erst anläßlich ihrer schließlich erfolgten Ausweisung im Jahr 1949 kam sie wieder mit ihren Kindern zusammen. Diese hatten sich bis dahin ganz von ihr entfremdet, da sie nur polnisch reden und schreiben durften.

Nicht wahr? Von solchen Schicksalen wie sie Millionen Deutsche erlebt haben, wird in öffentlichen Erörterungen wenig Aufhebens gemacht, oft sogar wenig Aufhebens in familiären Gesprächen. Dies wird von Seiten der Psychologen als einer der Hauptgründe dafür genannt, das Kriegstraumatisierungen von Kriegskindern an Kriegsenkel und Kriegsurenkel weiter gegeben werden, ohne daß sie jemals gründlicher aufgearbeitet worden wären.

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  1. Bernhart Jähnig, Peter Letkemann (Hrsg.): 750 Jahre Kulm und Marienwerder. In: Beiträge zur Geschichte Westpreußens, Ausgabe 8, hrsg. v. Copernicus-Vereinigung zur Pflege der Heimatkunde und Geschichte Westpreußens. Verlag Nicolaus-Copernicus-Verl., 1983, https://books.google.de/books?id=eDlpAAAAMAAJ (Suchwort Unislav) 
  2. Rasmus, Hugo: Pommerellen-Westpreußen 1919-1939. Herbig München 1989
  3. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 2. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1984
  4. Lachauer, Ulla: Westpreußen - Als der Osten noch Heimat war, WDR-Dokumentation 2009,  https://youtu.be/z2bckDEkrow, oder https://youtu.be/9ShdpRrKUcY.
  5. Włodzimierz Borodziej: Als der Osten noch Heimat war. Was vor der Vertreibung geschah: Pommern, Schlesien, Westpreussen : das Buch zur WDR-Fernsehserie. Rowohlt, 2009 (316 S.) (GB) 
  6. Jürgen W. Schmidt: Als die Heimat zur Fremde wurde ... - Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Westpreußen. Aufsätze und Augenzeugenberichte. Verlag Dr. Köster, 2011 (466 S.) (GB)
  7. Höllenmarsch der Volksdeutschen in Polen. Nach ärztlichen Dokumenten zusammengestellt  von Dr. Hans Hartmann.    Verlag Neues Volk, Berlin, Wien  1940; The Scriptorium, digitalisierter Nachdruck 2014; Druckversion gesetzt 2016, https://archive.org/stream/SC079 HoellenmarschDerVolksdeutschenInPolen/SC%20079%20 Hoellenmarsch%20der%20Volksdeu tschen%20in%20Polen_djvu.txt
  8. Christian Jansen, Arno Weckbecker: Der "Volksdeutsche Selbstschutz" in Polen 1939/1940. https://books.google.de/books?id=rdTnBQAAQBAJ&pg=PT162 (Suchwort: Unislaw)
  9. Amtsbezirk Kulmisch Wenzlau. In: Rolf Jehke (Herdecke): Territoriale Veränderungen in Deutschland und deutsch verwalteten Gebieten 1874-1945. Zuletzt geändert am 19.5.2005, http://www.territorial.de/dawp/kulm/klmwenzl.htm
  10. Kulm. In: Deutsches Weichselland. Ein Farbfilm von Curt A. Engel, 1943/1960, https://youtu.be/37EFyx0DyEE, ab Minute 4
  11. Kronberg, Werner: Studenten in Westpreußen bei Schanzarbeiten und Stadtbesichtigungen im August 1944, private Filmaufnahmen, https://youtu.be/RGX4-kWyzqg
  12. Generalleutnant a. D. Otto Lüdecke: Die Belagerung und der Ausbruch aus der Festung Thorn Bundesarchiv, Ost-Dok 2, Paganierung 50-56, http://www.thorn-wpr.de/fqODLOAT.htm
  13. Thorwald, Jürgen (d.i. Heinz Bongartz): Es begann an der Weichsel. Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Steingrüben, Stuttgart 1949
  14. David Oels: Schicksal, Schuld und Gräueltaten - Jürgen Thorwalds ewiger Bestseller "Die große Flucht". In: DIE ZEIT, 22.07.2010 Nr. 30, https://www.zeit.de/2010/30/Geschichte-Thorwalds-Flucht/komplettansicht
  15. Schäufler, Hans: 1945 - Panzer an der Weichsel. Soldaten der letzten Stunde. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1979
  16. Andreas Prause (Chełmno): Internetseite über die Stadt Culm, http://www.chelmno.info/ 
  17. Andreas Prause: NS-Zeit in Chełmno - Kindheitserinnerungen von Eugeniusz Stefaniak Veröffentlicht am 19. Juni 2012 [Erstveröffentlichung 10.11.2008], http://www.chelmno.info/ns-zeit-kindheitserinnerungen-stefaniak/
  18. Unislaw heute, Fotos: https://www.inst4gram.com/tag/unis%C5%82aw
  19. Zuckerfabrik Onislaw.- Kulmischwenzlau, Reg. Bez. Danzig (Kreis Kulm), https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/YZMLNZ6QM7IO7OTMOSWDI27H52KSONE2
  20. Bading, Ingo: Das Verdrängen des Leids - Unserer Großeltern-Generation, 2.7.2019, https://studgenpol.blogspot.com/2019/07/das-verdrangen-des-leids-unserer.html 

1 Kommentar:

  1. The 3 - 4 September 1939, 365 persons was killed in Bromberg. Of them, were 263 from Bromberg. Of them were 254 Protestants (and probably Germans) and 86 Catholics (and probably Poles). We don't know how many died by gunshots and how many died in hospitals som a result of acts of war.
    In the following weeks German Wehrmacht and Einsatzgruppen have killed 600-800 Poles in the public executions in Bromberg's Alter Markt. In the first months of German occupation as a result of operation Tannenberg German were 1500-2500 Polish and Jewish inhabitants killed by a local Selbstschutz and Einsatzkommando 16.
    These are the facts. What you are doing is spreading fake news. I wonder how you can call himself "Historian"?
    Use proper references in stead of YouTube and modern newspapers and be critical. And don't write an alternate history! E.Winther, MA Philosophy/History, AAU, Denmark

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