Dienstag, 23. Juli 2019

Das Prignitz-Museum für Vorgeschichte in Heiligengrabe

Ein bedeutender Ort der wissenschaftlichen Germanenkunde vor 1945

Im aktuellen Newsletter der deutschen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte wird die folgende Fragestellung behandelt (DGFU Newsletter, 3.10.2019):

Wie stellen die Archäologie als Wissenschaft und die archäologische Denkmalpflege sicher, daß der Nutzen archäologischer Erkenntnisse der Allgemeinheit zugute kommt?

Es geht also darum, daß eine Popularisierung der in den letzten Jahrzehnten gewonnenen reichen archäologischen Erkenntnisse zur Geschichte der Menschheit weltweit und zur Geschichte der Völker Europas so gut wie keinen Eingang in die Allgemeinbildung findet, daß die Archäologie weiterhin im "Elfenbeinturm der Wissenschaft" verschanzt und für sich bleibt. Sogar von Seiten der "Vereinten Nationen" gibt es hier seit 2016 vorgegebene Zielsetzungen, gegen die fortlaufend verstoßen wird, so wird im weiteren - ein wenig verklausuliert - formuliert:

Inwieweit trägt die praktische archäologische Denkmalpflege zu einer nachhaltigen Entwicklung im Sinne der der Vereinten Nationen bei? Gemeint sind die das Kulturelle Erbe betreffenden Aspekte von Ziel 11, "Nachhaltige Städte und Gesellschaften". Für Schweden hat dies Ulrika Söderström untersucht, und sie kommt – so faßt das Rezensent Raimund Karl zusammen, "zu dem unangenehmen Ergebnis, daß [die schwedische Archäologie] das nur in einem sehr geringen Ausmaß tut, wenn überhaupt." Söderströms Arbeit weise kleine Lücken auf, so Karl, sei aber von hoher Bedeutung: "Insbesondere ihre Analyse der Diskrepanz, die zwischen den der schwedischen archäologischen Denkmalpflege gesetzlich zugewiesenen Aufgaben, zur nachhaltigen, partizipativen und inklusiven gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen, und der tatsächlichen Praxis im Bereich des archäologischen Dienstleistungsbetriebs besteht, ist treffsicher und ebenso wichtig wie unbequem zu lesen." Generell stellt Karl die Frage: "Welchen Nutzen haben archäologische Erkenntnisse wirklich, für wen sind sie nützlich und wie stellt die Archäologie als Wissenschaft und die archäologische Denkmalpflege sicher, daß dieser Nutzen auch tatsächlich der Allgemeinheit und nicht nur ein paar wenigen Archäologen zugutekommt? Mit diesen Fragen hat sich unser Fach tatsächlich bislang viel zu wenig beschäftigt."
Karl, R. (2019). Rezension zu: Söderström, U. (2018). Contract Archaeology and Sustainable Development. Between Policy and Practice. (LNU Licentiate No. 19). Växjö: Linnaeus University Press. Archäologische Informationen 42, Early View, online publiziert 26. Sept. 2019. https://dguf.de/fileadmin/AI/ArchInf-EV_Karl2.pdf
United Nations: Sustainable Development Goals (2016): https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/

Um hier Menschen und Wissenschaftlern ein wenig gedanklich auf die Sprünge zu helfen, sei im folgenden von einem sehr populären archäologischen Museum und archäologischer Museumsarbeit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Brandenburg berichtet, die völlig in Vergessenheit geraten sind.

Zwei Kilometer entfernt von der A24 von Berlin nach Hamburg, auf halbem Weg zwischen Wittstock und Pritzwalk liegt das Kloster Heiligengrabe (Wiki). Es gilt als das besterhaltene Kloster des Landes Brandenburg. Obwohl mit seinen vielen Gebäuden noch heute idyllisch und ruhig gelegenen, ist es somit dennoch verkehrsmäßig hervorragend angebunden. Das mittelalterliche Frauenkloster der Zisterzienser und das nachmittelalterliche säkularisierte Damenstift dienten bis 1945 zunächst als eine Versorgungsanstalt für unverheiratete weibliche Angehörige der adligen Familien des Landes, insbesondere auch der verarmten Familien unter ihnen. Von solchen gab es zum Beispiel nach den Schlesischen Kriegen Friedrichs des Großen sehr viele. Dennoch war die gesellschaftliche Stellung dieser Stiftsdamen Jahrhunderte lang sehr hoch (1, S. 422):

Das Stift galt als vornehm. Seine Leiterin, die Äbtissin, hatte einen hohen Rang am preußischen Hof. Sie hatte den gleichen Rang wie die Oberhofmeisterin der Prinzessinnen und wie die Hofdamen der Kronprinzessin. Sie rangierte vor den Ehefrauen der Obersten. Auch die Stiftsdamen waren hoffähig und hatten eine herausgehobene Stelle in der Hofrangordnung, mit größerem Ansehen, als es unverheirateten Frauen sonst zukam. Sie folgten den Ehefrauen der Majore.

So ging es also zu in Brandenburg und Deutschland vor der Revolution des Jahres 1918. Die Ende 1918 gestürzte vorgeblich "vorbürgerliche" Elite des Landes scheint einiges besser hinbekommen zu haben wie jene Elite, die sich danach etablierte - wie im folgenden zu schildern sein wird.

Abb. 1: Bronzezeitliche Germanen - Gemälde von Wilhelm Petersen

In diesem Damenstift wurde nämlich im Jahr 1909 ein sehr bedeutendes vorgeschichtliches Museum, das Prignitz-Museum, eingerichtet. Anfangs wurde es ganz bescheiden nur "Heimat-Museum" genannt. Das ist preußischer Geist: "Mehr sein als scheinen." Aber diese Namensgebungsollte nicht darüber hinweg täuschen, daß dieses Museum bis zu seiner Plünderung und Vernichtung durch die sowjetische Armee im Jahr 1945 als eines der fortschrittlichsten seiner Art in Deutschland - und damit in der Welt galt. Im heutigen Damenstift wird nun seit 1997 erneut ein Museum aufgebaut. Es wird dabei - natürlich - auch versucht, an das große Erbe jenes Museums, wie es bis 1945 bestanden hat, anzuknüpfen und dabei auch die Bedeutung des früheren Museums ins Bewußtsein zu rücken (2) (Abb. 1, 4-10). Anerkennenswerter Weise wird dieses Anliegen insbesondere verfolgt in der inzwischen 11-jährigen Arbeit der Heiligengraber Kuratorin, der Kunsthistorikerin Sarah Romeyke (geb. 1970) (Lukas Verlag). Auch ein "Verein zur Entwicklung des Kultur- und Museumsstandortes Kloster Stift zum Heiligengrabe e.V.", der von Seiten der Gemeinde und von Gewerbetreibenden in Heiligengrabe gegründet worden ist, unterstützt sie dabei.

Die heutige von Sarah Romeyke konzipierte, seit Mai 2017 bestehende Dauerausstellung gibt nun überraschenderweise überall von der großen Begeisterung Kunde, mit der Sarah Romeyke der vergessenen, großen Bedeutung, die dieses Museum einmal in früheren Jahrzehnten hatte, auf vielen Ebenen nachgeht. Diese Bedeutung faßte sie einmal im Jahr 2015 in einem Interview (mit der "Märkischen Allgemeinen Zeitung") folgendermaßen zusammen (MAZ 2015):

Die Ausstrahlung und Bedeutung der Heiligengraber Sammlung war bereits kurz nach seiner Gründung 1909 sehr groß. Die Gründer Paul Quente und Äbtissin Adolphine von Rohr verstanden es binnen kürzester Zeit, zusammen mit dem Museumsverein im Stift eine wissenschaftlich anerkannte Plattform für die vor- und frühgeschichtliche Forschung in der Ostprignitz zu installieren. Dutzende von Grabungen in der Region, die wissenschaftliche Auswertung in den Fachjournalen, die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift und die Präsentation der Objekte in der Heiligengraber Museumssammlung waren Bestandteile einer fundierten und überregional geachteten Arbeit des Museums.

Mit größerem Nachdruck kann auf die vormalige Arbeit dieses Museums kaum hingewiesen werden. Ein Jahr später sagte sie (derselben Zeitung) (MAZ 2016):

Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mehr als 7000 Fundstücke befanden sich einst in den alten Inventarlisten vom Heimatmuseum im Kloster Stift zum Heiligengrabe. 1947 wurde das Museum aufgelöst. Die Sammlung wurde teilweise von den umliegenden Museen in Kyritz, Pritzwalk und Wittstock übernommen und im Laufe der Jahrzehnte auch an andere Orte verlagert. Gut 1250 Objekte konnten in den letzten Monaten im Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseum in Wünsdorf (Teltow-Fläming) identifiziert und Heiligengrabe zugeordnet werden. Die Suche geht noch weiter.

Man darf also auf weitere Erkenntnisse gespannt sein.

Abb. 2: Die 1512 errichtete Heiliggrab- oder Blut-Kapelle (nicht die Stiftskirche!) in Heiligengrabe hat 1904 durch Kaiser Wilhelm II. eine prächtige innere Ausstattung (s. Wiki) erhalten. Sie stellt den eigentlichen Wallfahrtsort in der Klosteranlage dar. Der Legende nach wurde sie über einem Hinrichtungsplatz (Galgenberg) erbaut. - Ein kleiner Ausschnitt aus der recht großen und geschlossenen architektonischen Klosteranlage samt weitläufigen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. - Eigenes Foto.

Und es ist zu erfahren (Ausstellung):

Im Februar 2015 erhielt das Museum den von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung ausgelobten „Initiativpreis“ für ein innovatives Konzept zur Aufarbeitung der Geschichte des ehemaligen archäologischen und prähistorischen Heimatmuseums (1909-1947) in Heiligengrabe sowie die Erforschung des Verbleibs seiner Sammlung. Die ersten Ergebnisse dieser Arbeit werden nunmehr im Obergeschoß des Kreuzgangs gezeigt, wo das Heimatmuseum bis 1947 untergebracht war. (...) Die Ausstellung verdeutlicht, daß die Sammlung einst ein Spiegel der Anteilnahme ganzer Bevölkerungsschichten an der Museumsarbeit war und sich großenteils aus deren immensen Sammeleifer speiste. Besonderes Augenmerk der Ausstellung liegt dabei auch auf den ideologisch belasteten Beweggründen der einstigen Initiatoren des Museums. Mit der Analyse dieser Zusammenhänge zwischen Museumsarbeit und politischen Gegebenheiten der Kaiserzeit und des Nationalsozialismus wird zugleich auf ein schwieriges Stück Vergangenheit der eigenen Institution verwiesen.

Die Räume, in denen die Ausstellung vor 1945 und auch heute eingerichtet worden sind, dienten schon den Stiftsdamen des Mittelalters zur Kontemplation und zum In-sich-Gehen (Museum):

Seit Mai 2017 ist hier nun, inmitten der Abtei, die neu konzipierte und gestaltete Dauerausstellung zur Klostergeschichte zu sehen. Der ebenfalls inzwischen für Besucher erschlossene obere südliche Kreuzgang, welcher in mittelalterlicher Zeit als Verbindung zwischen Abtei und Nonnenempore diente sowie ein wichtiger Ort der Kontemplation für die geistliche Frauengemeinschaft war, ist der Geschichte des ehemaligen Heimatmuseums gewidmet, das hier von 1909 bis 1947 seinen Platz hatte.

Und (Bokelmann/Flyer):

Die Ausstellung wurde unterstützt durch das Ministerim für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

Arbeitet sich nun der Besucher, angestoßen durch die Anregungen in dieser Dauerausstellung (2) in die Geschichte dieses Museums ein, steht er immer wieder vor sehr bewegendem, ja, mitunter erschütterndem Geschehen, vor einer ganzen Reihe von Lebensschicksalen jener Menschen, die sich um den Aufbau dieses Museums verdient gemacht hatten, und die Anteil erwecken, nein, mehr noch: Vor einer ganzen Geistesrichtung der deutschen Geschichte, deren man sich heute kaum noch bewußt ist, die kaum moch wahrgenommen wird, kaum noch zur Kenntnis genommen wird: der wissenschaftlichen Germanenkunde vor 1945, die getragen war von der Begeisterung für eine Lebensweise unserer Vorfahren, der Germanen, und mit der - stillschweigend oder offen ausgesprochen - eine Begeisterung verbunden sein konnte für eine Alternative zum als veraltet und muffig empfunden Christentum des beginnenden 20. Jahrhunderts, auch einer neuen fast religiös aufgeladenen Heimatverbundenheit aus dieser Begeisterung heraus.

Das neue "Heilige Land" für die Deutschen sollte - nach dem Verständnis der Gestalter dieses Heimat- und Vorgeschichtsmuseums - nicht mehr Palästina sein, nicht mehr Jerusalem und der Berg Sinai, sondern - in diesem Fall - die Prignitz, die eigene großartige Heimat.

Und die Vorgeschichte der Prignitz bietet ja heute, hundert Jahre später, im Grunde noch viel mehr Anlaß, Begeisterung zu wecken, da heute ein viel umfangreicheres, reichhaligeres Bild von dieser Vergangenheit gezeichnet werden kann, als das zwischen der Zeit der Gründung und der bewußten, aus atheistischen und ideologie-gesteuerten Motiven gespeisten Vernichtung dieses Museums hatte gezeichnet werden können (Wiki). Um diesen Reichtum deutlich zu machen, hat das heutige Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologische Landesmuseum (BLDAM) in der Prignitz entlang "Zentraler Archäologischer Orte", entlang sogenannter "Leuchttürme der Landesgeschichte" einen "Archäologischen Pfad" eingerichtet (Landkreis Prignitz). Dieser wird sicher im Sinne der eingangs genannten Zielsetzungen der "Vereinten Nationen" des Jahres 2016 sein. Für diesen wurde auch eine eigene Broschüre erstellt (pdf). Von den betroffenen Gemeinden ist zur weiteren kulturellen, musealen und touristischen Erschließung eine "Prignitzer Erklärung" unterzeichnet worden. All das sind Bestrebungen, die jene des einstigen Prignitz-Museums in Heiligengrabe fortsetzen, auch ohne daß ausdrücklich an diese angeknüpft wird. Der große allgemeine kulturelle Aufbruch jedoch hin zu einer neuen Anteilnahme für unsere vorchristliche Vergangenheit, den es da seit 1909 in Heiligengrabe in wissenschaftlicher und wissenschaftsnaher Tätigkeit gegeben hat, letztlich hin zu einer neuen "Religion", dieser kulturelle Aufbruch ist heute freilich weder in der Prignitz noch in Deutschland überhaupt, weder in der Wissenschaft noch über sie hinaus spürbar.

Aber würde ein solcher nicht zur "nachhaltigen Entwicklung" unserer Gesellschaft in bedeutendem Maße beitragen? Sollten deshalb nicht auch Archäologen fragen, wie sie einem solchen Aufbruch entgegenarbeiten können oder - noch besser - entgegen arbeiten können. Warum auch sollten wir die Prignitz heute nicht mehr als "Heiliges Land" ansehen? Warum soll es keinen tiefen, begeisternden und bewegenden Gegenwartsbezug von - angeblich - verquastetem archäologischen Wissen geben?

Die Archäologie der Prignitz - Nur ein kurzer Überblick zum heutigen Wissensstand

Um hier wenigstens einen groben Überblick zu geben, wovon der genannte "Archäologische Pfad" Kunde geben will, soll erst einmal nur einigen nüchternen, wissenschaftliche Fakten das Wort überlassen bleiben wie sie heute zur Allgemeinbildung gehören könnten: Zwischen 3.300 und 3.100 v. Ztr. haben Menschen der Trichterbecherkultur, die um 4.300 v. Ztr. entstanden war, nahe des Dorfes Melle bei Lenzen an der Elbe ein Großsteingrab errichtet (Wiki). Es ist als einziges von mehreren dieser Gegend übrig geblieben. Die Menschen der Trichterbecherkultur, des ersten seßhaften Bauernvolkes in diesem Raum, waren nach den neuesten Ergebnissen der Archäogenetik zu 80 % anatolisch-neolithischer und zu 20 % einheimischer Abstammung. Sie stammten also vorwiegend von den mitteleuropäischen Bandkeramikern und deren Nachfolgekulturen ab. Zur Zeit der Errichtung dieses Grabes war sogar schon die Benutzung des Rades in Form von Rinderwagen gebräuchlich geworden. Das Rind trug Zugkraft auch bei der Feldbestellung ging vermutlich auch - nach neuesten Forschungen - zur Ausformung komplexerer gesellschaftlicher und staatlicher Strukturen bei, vielleicht vergleichbar den traditionellen Fürstentümern Indiens, wo ja noch bis heute Rinderwagen eine Rolle spielen.

Ab 2.500 v. Ztr. breiteten sich die indogermanischen Schnurkeramiker - aus dem Weichselraum kommend, bzw. letztlich aus der Chwalynsk-Kultur an der Mittleren Wolga um 4.500 v. Ztr. her kommend - über die Prignitz bis nach Skandinavien aus. Sie breiteten jene Muttersprache und Genetik über ganz Europa aus, die noch heute dort vorherrschen. Wir stammen noch heute von diesen Indogermanen ab. Unsere Gene stammen zu 70 bis 80 % von den Schnurkeramikern ab, der Rest unserer Gene stammt von den anatolisch-neolithischen Bauern, die vor den Schnurkeramikern hier lebten, sowie von den letzten Fischern, Jägern und Sammlern, die vor der Trichterbecherkultur in Nordeuropa lebten - vermutlich 30.000 Jahre lang in genetischer Kontinuität. Um 2.200 herum ging aus den Schnurkeramikern in Nordeuropa die Nordische Bronzezeit und - im Mittleren Elberaum - die bedeutende Aunjetitzer Kultur hervor. Aus der Aunjetitzer Kultur ging später in kultureller und genetischer Kontinuität die große Völkergruppe der Kelten hervor. Aus der Nordischen Bronzezeit ging die große Völkergruppe der Germanen hervor. In welchen Zusammenhängen die Menschen und Volksstämme der Prignitz mit der Schlacht im Tollensetal (Wiki) im nahegelegenen Mecklenburg um 1250 v. Ztr. standen, deren Überreste erst seit zehn Jahren erforscht werden, werden vermutlich künftige Forschungen noch klären.

Aber als eines der spätesten, bedeutenden Zeugnisse der Bronzezeit mit ihren Handelsbeziehungen bis in den Mittelmeerraum gilt das "Königsgrab von Seddin" (Wiki) aus der Zeit um 820 v. Ztr., 16 Kilometer westlich von Pritzwalk. Es kann nach neuesten Forschungen in Zusammenhang gestellt werden mit den sogenannten "Homerischen Heroengräbern", für die man einheitliche archäologische Hinweise von Dänemark über die Provinz Posen (heute Polen) bis nach Griechenland findet, und die in sehr genauer Übereinstimmung stehen mit Begräbniszeremonien wie sie in der "Ilias" von Homer beschrieben werden (Begräbnis des Patroklos). Der Horizont, der sich hier eröffnet, würde auf ungeteilte Begeisterung der Begründer des Prignitz-Museums des Jahres 1909 stoßen wie wir gleich noch sehen werden.

Abb. 3: Das Königsgrab von Seddin 1899 (Herkunft: Stadtmuseum Berlin)

In der Eisenzeit und während der Römerzeit lebten die Vorfahren der Alemannen im Elberaum, ebenso die Vorfahren der Langobarden - beide Völker vermutlich aus Jütland kommend. An diese schlossen sich in der östlichen Prignitz als weiterer germanischer Volksstamm die Semnonen an. Es sind dies alles Völkerschaften, die als sogenannte "elbgermanische" Stämme zusammen gefaßt werden (Wiki). Die Langobarden wanderten in der Völkerwanderung ab 375 n. Ztr. von der Prignitz aus über das Mittelelbe-Saalegebiet Richtung Süden (Helmut Schröcke 2003, S. 30, GB):

In der Prignitz nördlich der Elbe wurden Gräberfelder nach 400 nicht mehr belegt und bis 600 war der Siedlungsabbruch fast vollständig. Die Funde aus der Prignitz zeigen Ähnlichkeiten zu den nach 400 im Mittelelbe-Saalegebiet beginnenden Brandgräbern.

Germanen und Römer hatten - von Norden und Süden kommend - die Kelten in Süddeutschland überlagert, nun überlagerten die Germanen - von Norden kommend - die Römer nicht nur in Süddeutschland, sondern im gesamten Mittelmeerraum. Für solches Wissen um die Vorgeschichte begeistern sich in der Prignitz - und auch sonst - die Menschen nun schon seit mehr als hundert Jahren wie im folgenden zu zeigen sein wird.

"Der treue Kossinnaschüler Paul Quente"

Der junge Landschaftsmaler Paul Quente (1887-1915) war es vor allem, der die Anregung gegeben hat zur Gründung des Heimatmuseums in Heiligengrabe. Er war auch sein erster Museumsleiter. Er hat es ab 1909, ab seinem 22. Lebensjahr, aufgebaut. Schon im Oktober 1915 - mit 28 Jahren - ist er als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg - am legendären Hartmannsweilerkopf im Elsaß - gefallen. Diese fünf Jahre Tätigkeit reichten, um eine Institution zu begründen, die noch Jahrzehnte lang erfolgreich weiter arbeiten und deren Arbeit bis heute weiter wirken sollte. Kein Wunder, daß auf ihn bewegte Nachrufe in Fachzeitschriften erschienen (Prähistorischen Zeitschrift 1915, S. 84):

Paul Quente 1887-1915, der Gründer und Leiter des Kloster-Museums zu Heiligengrabe (Prignitz), starb am 15. Oktober 1915 den Heldentod für das Vaterland. Die Vorgeschichteforschung verliert in ihm einen Jünger, dessen Bestrebungen ...

Oder (Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 47, 1915, S. 427):

Gestorben ist ferner der Kunstmaler Paul Quente, der Begründer des Prignitz-Museums in Heiligengrabe, den Mitgliedern der Gesellschaft durch seine Ausgrabungen in Dahlhausen und anderen Orten der Prignitz und durch seine Veröffentlichungen in der Prähistorischen Zeitschrift bekannt. Er fiel als Kriegsfreiwilliger im Garde-Schützen-Bataillon. Der Gesellschaft gehörte er seit dem Jahre 1909 an.

Was für ein helles, kurz aufstrahlendes und deshalb bewegendes Lebenslicht steht schon gleich am Anfang dieses Museums. Ist dieses Lebensschicksal nicht wie ein Symbol? Und erinnert es nicht an jenes - vielleicht noch ungleich bedeutungsvollere - nämlich das des Hölderlin-Forschers Norbert von Hellingrath (1888-1916) (Wiki)? Auch dieser hat schon als ganz junger Mensch Wesentlichstes für das das Verständnis des deutschen Dichters und Philosophen Friedrich Hölderlin geleistet - so als ob er geahnt hätte, daß ihm dafür nur wenig Lebenszeit verbleiben würde. Und auch er trug mit seinen Hölderlin-Forschungen maßgeblich zu dem nichtchristlichen religiösen Aufbruch in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei. Und ähnlich auch Paul Quente. Seinen Namen liest man in der heutigen Ausstellung zunächst nur im flüchtigen Vorübergehen. Erst wenn man sich auf sein Lebensschicksal einläßt, gewinnt der Name Bedeutung. Quente ist in Weißenfels an der Saale geboren worden. Er hat zu den vielen Menschen damals in Deutschland gehört, die sich von führenden Archäologen wie Gustaf Kossinna (1849-1931) (Wiki) für die Vorgeschichte hatten begeistern ließen. Mit 19 Jahren schon, 1906, hat er vorgeschichtliche Funde an Sammlungen abgegeben (Mainzer Zeitschrift 1906, S. 87, GB):

Wir erhielten: Aus Deutschland: Spätpaläolithische und frühneolithische Feuersteinobjekte von Rügen, zum Teil geschenkt von Herrn Kunstmaler Paul Quente in Heiligengrabe bei Techow i. d. Prignitz.

Paul Quente besuchte Vorlesungen von Gustaf Kossinna in Berlin. Er wurde sein "treuer Schüler". Im Jahr 1910 hat er 23 Gräber ausgegraben (Matthes 1929, S. 114). In der "Politisch-Anthropologischen Monatsschrift für prakische Politik, für Politische Bildung und Erziehung auf Biologischer Grundlage" hieß es (Band 10, 1912 S. 499, GB):

Entdeckung eines Langobardenfriedhofs in der Mark. Bei Dahlhausen in der Prignitz hat Paul Quente vor kurzem ein großes Gräberfeld entdeckt, über das er in der „Neuen Prähistorischen Zeitschrift“ berichtet.

Diese Ausgrabungen wurden in vielen wissenschaftlichen Kreisen zur Kenntnis genommen (Jahresbericht über die Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie, Band 33, 1913, S. 24, GB):

Paul Quente, Das langobardische urnenfeld von Dahlhausen in der Prignitz. Prähist. zs. 3, 156-162. - im nördlichsten teile des gräberfeldes fand sich auch die verbrennungsstätte (Ustrina) als 6 1/2 m langer und 2 2/3 m breiter steingepflasterter platz. ....

1913 begründete Paul Quente die "Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe". Diese "Mitteilungen" sind bis zum Jahr 1940 erschienen. In einer Studie über diese "Mitteilungen" aus dem Jahr 2011 heißt es zusammenfassend (Czubatynski 2011):

Die von 1913 bis 1940 in unregelmäßiger Folge erschienene Zeitschrift ist neben den Heimatkalendern und den Prignitzer Volksbüchern das einzige in der Prignitz gedruckte Periodikum, das sich der Geschichtsforschung im engeren Sinne gewidmet hat. Insofern ist die Zeitschrift nicht nur für die kulturelle Arbeit im Kloster Heiligengrabe ein außerordentlich wichtiges Zeitzeugnis, sondern - freilich nur mit großer Vorsicht - auch als Vorläufer der „Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz“ zu betrachten. Angesichts des nach dem Krieg fast völlig zerstörten Heiligengraber Museums besitzt die Zeitschrift heute einen unzweifelhaft hohen dokumentarischen Wert. (...) Der "Verein zur Förderung der Heimatforschung und des Heimatmuseums für die Prignitz in Heiligengrabe" (so die Selbstbezeichnung auf dem ersten Jahrgang der Zeitschrift) stieß offensichtlich auf ein sehr breites Interesse. In den Vereinsnachrichten von 1914 (siehe unten Nr. 036, S. 12) konnte die Stiftsdame und Schriftführerin Meta von Goddenthow mitteilen, daß der Verein über 800 (!) Mitglieder hat.

In den auch aufgeführten Inhaltsverzeichnissen dieser Zeitschrift läßt sich das vielfältige Wirken von Paul Quente recht gut nachvollziehen (Czubatynski 2011). 1914 hat Quente erneut eine Ausgrabung vorgenommen (s. Matthes 1929, S. 178). 1914 heißt es dann in der von Gustaf Kossinna seit 1909 herausgegebenen "Mannus - Zeitschrift für Vorgeschichte" (Wiki) (S. 389):

Es folgten zwei Vorträge von Paul Quente - Heiligengrabe über die Ostprignitz, deren erster sämtliche geschlossenen "Funde aus der Bronzezeit der Ostprignitz" vorführte, während der andere unter dem Titel "Die letzten vorwendischen Germanen östlich der Elbe" die Prignitzer Urnengräber des 4. - 6. (?) nachchristlichen Jahrhunderts behandelte. Den Beschluß der Sitzung machte ein Vortrag von Professor Kossinna.

Im Jahr 1914 ist auch ein "Heimat- und Museums-Verein in Heiligengrabe" gegründet worden. 1936 ist in "Mannus" noch einmal die Aufbauarbeit von Paul Quente in Heiligengrabe erwähnt:

In Heiligengrabe war schon vor dem Kriege durch die aufopfernde Sammel- und Forschungstätigkeit des Kunstmalers und treuen Kossinnaschülers Paul Quente und unter der hochherzigen Förderung der damaligen Äbtissin, Frau v. Rohr ....

Im selben Jahr erinnerte auch der deutsche Archäologe Hans Reinerth, der Nachfolger Gustaf Kossinnas, in der Zeitschrift "Germanen-Erbe" (GB):

Paul Quente, der Gründer des Heimatmuseums Heiligengrabe, war der erste, der den wirklich erhabenen Charakter dieses durch die Vorgeschichte gestalteten Landschaftsbildes erkannte.

Man merkt diesen Worten deutlich an, welch großer Anspruch in damaliger Zeit der Vorgeschichtsforschung zugesprochen wurde. Man hatte ein neues "Heiliges Land" gefunden. Und warum sollte ein solcher Gegenwartsbezug nicht auch heute möglich sein? Am Königsgrab von Seddin in der heutigen Deutung eines "Homerischen Heroengrabes" ist dieser Gegenwartsbezug als Anregung für einen neuen religiös-kulturellen Aufbruch besonders nahe.

Adolphine von Rohr als Förderin des Museums

Der junge Paul Quente hat die damalige Äbtissin des Stiftes Heiligengrabe, Adolphine von Rohr (1855-1923) (Wiki), für den Aufbau eines Museums begeistern können. Allein aufgrund der Begeisterungsfähigkeit dieser Äbtissin hatte es so schnelle Fortschritte gegeben in der Entwicklung seiner Pläne. Diese Äbtissin war 1909 52 Jahre alt. Es wird deutlich, wie gut damals zwei unterschiedliche Generationen aufeinander abgestimmt arbeiten konnten in der Verfolgung wesentlicher kultureller und wissenschaftlicher Bestrebungen.

Wer war diese Äbtissin? Auch in ihrem Lebensschicksal spielt der Krieg und der Tod im Krieg keineswegs eine unwesentliche Rolle. Sie war die Tochter des preußische Generals von Gersdorff. Ihr Vater war, als sie selbst 15 Jahre alt war, 1870 in der Schlacht von Sedan gefallen. Natürlich steht, wer sin solchen Lebenszusammenhängen steht, anders im Leben als wer das nicht tut oder wer sie gleichgültig vergißt (so wie das nach 1945 weithin üblich geworden ist in Deutschland). Treue Aufopferung für das Vaterland war damals etwas Selbstverständliches in den Völkern Europas. Aus dieser treuen Aufopferung lebte auch eine Fülle kultureller und religionsähnlicher Bestrebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fünf Jahre später heiratete Adolphine einen Herrn von Rohr. Sie erlebte eine Totgeburt. 1892 ist ihr Ehemann an Typhus gestorben. Nach dem Tod ihres Ehemannes hat Adolphine Krankenpflege-Kurse besucht und war als Hofdame bei der Fürstenfamilie von Waldeck tätig. Es steht dann auf Wikipedia über eine erneute Wendung in ihrem Leben (Wiki):

1899 ernannte Kaiser Wilhelm II. Adolphine von Rohr gegen heftige Einwände des Klosterkonvents, der an ihrer früheren Verheiratung Anstoß nahm, zur Äbtissin von Heiligengrabe. (...) Als Äbtissin setzte sie sich für eine Rückbesinnung auf die sozialen Aufgaben eines Damenstifts ein und förderte insbesondere die schulische und berufliche Ausbildung junger mittelloser Mädchen. Kaiser Wilhelm, der sie schätzte und unterstützte, besuchte sie im Kloster und verlieh ihr 1901 den Äbtissinnenstab. Sie setzte unter anderem die Anerkennung der Schule als „Höhere Mädchenschule“ im Jahr 1908 durch. Neben ihren sozialen Bemühungen unterstützte sie auch heimatkundliche Forschungen und half mit bei der Gründung eines heimatkundlichen Museums im Südflügel der Abtei im Jahr 1909. Sie erwirkte zum Ende des Ersten Weltkrieges beim "Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege in Preußen" die Genehmigung für den Verkauf von Druckschriften der Vaterländischen Verlags- und Kunstanstalt, Inhaber: Verein für Berliner Stadtmission, Berlin, zur "Unterstützung der Kriegswaisen in der Erziehungsanstalt des Klosters Heiligengrabe (Prignitz)."

Machen wir uns vielleicht an diesem Lebensgang den folgenden Umstand bewußt: Fast alle Überlieferungen heidnisch-germanischen Geisteslebens, die unmittelbar auf uns gekommen sind - etwa die Island-Sagas oder altdeutsche Heldenlieder - sind von christlichen Klerikern im Mittelalter aufgezeichnet worden. Diese fühlten eine Liebe und Verehrung gegenüber diesem heidnischen Erbe und Geistesgut. Und eine solche Liebe und Verehrung gegenüber heidnischer Vorgeschichte lebte - allzu offensichtlich - auch in so mancher evangelischen Äbtissin und in anderen Stiftsdamen, die in jener Zeit in Heiligengrabe lebten und wirkten. Ihr Wirken trug offenbar maßgeblich zur Entwicklung des damals neu gegründeten Heimatmuseums Heiligengrabe bei.

Ein monotheistischer Eifer, der mit Kälte, Gleichgültigkeit, Befremdung oder gar Haß dem Heidentum der eigenen Vorfahren gegenüber steht, ist hier in Heiligengrabe jedenfalls nicht erkennbar. Wohl uns, daß wir Menschen sehen und keine Hassenden.

Es kommt einem heute fast fremd vor, daß sich betont dem Christentum verbundene Stiftsdamen für die Erforschung und geradezu andächtige Beschäftigung mit der heidnischen Vorgeschichte einsetzen. Es darf allerdings berücksichtigt bleiben: Vor 1914 war das Christentum allseits in der Mehrheit der Deutschen noch so stark gefestigt, daß überzeugte konservative Christen sich - quasi - ohne Sorge um den Glauben der ihnen Anvertrauten mit Liebe und Andacht der Pflege der Erinnerung an heidnisches Glaubensleben in Deutschland widmen konnten. Ein - im Grunde - eigenartiges Geschehen, zumindest aus heutiger Sicht. Es darf uns bewegen, uns Heutige, die wir vielleicht immer noch auf der Suche sind nach erfüllenden Lebensinhalten jenseits jene ernüchternden bolschewistischen oder ernüchternden kapitalisitischen Materialismus, die mit Hilfe von Soldatenstiefeln und Fernbombern im Jahr 1945 von Ost und West nach Deutschland hinein getragen worden sind.

Abb. 4: Die "Volkshochschule" der Prignitz

Auf einer heutigen Museumstafel wird über die "Spuren einer verlorenen Museumssammlung" aufschlußreich berichtet (Abb. 4). Daß die germanische Vorgeschichtsforschung ihren Antrieb "aus dem Wettbewerb mit Frankreich" erhalten habe - wie auf dieser Wandtafel zu lesen steht (Abb. 4), scheint sehr wenig durchdacht formuliert worden zu sein. Deutschland, das sich mit Recht als führende Kulturnation Europas sah, hatte es damals wirklich nicht nötig, kulturell in "Wettbewerb mit Frankreich" zu treten. Eher schon war es weithin im 19. Jahrhundert zur Abwendung vom orientalischen Christentum gekommen und man suchte - in Auseinandersetzung mit den eigenen vorchristlichen Vorfahren - neue Orientierungen zu gewinnen. 

Der Archäologe Jörg Lechler in Heiligengrabe 1920 bis 1923

Dabei gab es - natürlich - auch eine Abwendung von den bis dahin hoch gehaltenen Werten der antiken Mittelmeer-Kulturen und der romanisch-sprachigen Völkerwelt. In Frankreich wurden zur gleichen Zeit eher die Kelten - aber durchaus auch die germanischen Franken (siehe Graf Gobineau und andere) - erforscht. Ansonsten aber enthält die Museumstafel wertvolle Auskünfte.

Abb. 5: Der deutsche Archäologe Jörg Lechler

Wissenschaftlicher Leiter des Museums seit 1920 war ein weiterer "Kossinnaschüler", nämlich der deutsche Archäologe Dr. Jörg Lechler (1894-1969). Dieser hat einige der volkstümlichsten archäologischen Bücher der 1930er Jahre verfaßt, so vor allem das begeisternde Buch "5000 Jahre Deutschland". Jörg Lechler kam vom heute noch bedeutenden Museum für Vorgeschichte in Halle und hielt enge Zusammenarbeit mit diesem aufrecht, ebenso natürlich mit Gustaf Kossinna. Solange es das Prignitz-Museum gab - bis 1945 -, wurde in Deutschland ungeteilte Begeisterung für die germanische Vorgeschichte gefördert.

Abb. 6: "5000 Jahre ..."

Die Biographie des Archäologen Dr. Jörg Lechler (1894-1969) ist sehr spannend. Ernst Propst hat über sie berichtet (1) (zu ihm eigenes Literaturverzeichnis):

Er studierte in Berlin und Halle/Saale. 1913 bis 1918 grub er das Gräberfeld auf dem Sehringsberg bei Helmsdorf aus. 1923 bis 1924 war er Assistent am Tell-Halaf-Museum in Berlin und von 1924 bis 1935 Archäologe in der Prignitz. Ab 1936 lebte er in Detroit (USA), wo er bis 1965 am Art Institute der Wayne University arbeitete. Lechler prägte 1925 den Begriff Helms­dorfer Gruppe.

In dieser Kurzbiographie fällt der Ortsname Heiligengrabe kein einziges mal. Deshalb hat auch der Autor dieser Zeilen, der bislang nur diese Kurzbiographie gelesen hatte, von dem bedeutungsvollen Wirken Jörg Lechlers in Heiligengrabe bislang nichts ahnen können. Überhaupt: Die ganze wissenschaftliche Kossinna-Schule, so wird einem hier bewußt, scheint nach 1945 von der nachlebenden Archäologen-Generation tief, ganz, ganz tief in den Boden der Vergessenheit gestampft worden zu sein, so daß es heute - beispielsweise - für einen Jörg Lechler noch nicht einmal einen Wikipedia-Artikel gibt und man - selbst als viel belesener und wissenschaftsnaher Mensch so wie der Autor dieser Zeilen - auffallend wenig über sie bislang hat in Erfahrung bringen können. Daß man also mehr durch Zufall in die Ausstellung in Heiligengrabe geraten muß, um von diesem begeisternden Wirken früherer Archäologen-Generationen etwas zu erfahren. 1923 leitete Jörg Lechler einen Aufsatz ein mit den Worten (GB):

Das Heimatmuseum in Heiligengrabe (Prignitz) bringt dem Altmeister der deutschen Dorfgeschichte diesen kleinen Beitrag als Zeugnis dafür, wie "gute Taten fortzeugend Gutes gebären müssen".

Um welchen Altmeister es sich hier handelt, wäre noch interessant zu erfahren. Jörg Lechler hat sein weiteres Leben in den USA verbracht und ist auch dort gestorben, nämlich in Detroit (Nova Welt):

Er gilt als einer der Pioniere der Bronzezeit, die den Namen einer in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbreiteten Stufe, Kultur oder Gruppe der Bronzezeit in die Fachliteratur eingeführt haben.
Abb. 7: Jörg Lechler

Eine vorläufig zu ihm (mit Hilfe von Jb und GB) zusammengestellte Bibliographie (4-14) spiegelt wohl sein Wirken schon recht deutlich wieder. Lechler hat sich in den 1930er Jahren vor allem durch populärwissenschaftliche Bücher einen Namen gemacht. Noch heute eindrucksvoll zu lesen ist sein Buch "5.000 Jahre Deutschland", das den archäologischen Forschungsstand des Jahres 1935 sehr eindrucksvoll wiedergibt und an ein breites Publikum gerichtet ist. Ein vergleichbares Buch über den heutigen archäologischen Kenntnisstand könnte kaum genannt werden. Es müßte heute - nach der C14-Revolution in der modernen Archäologie in den 1950er Jahren und nach der Ancient-DNA-Revolution seit 2015 - benannt werden "8.000 Jahre Deutschland" (sofern - wie 1935 - mit einem solchen Titel die Geschichte seßhafte Kulturen in Mitteleuropa gekennzeichnet sein sollte). 1939 veröffentlichte Jörg Lechler auch - sehr, sehr fortschrittlich - ein Buch über die vorkolumbianische Entdeckung Amerikas. Auf diesem Gebiet ist Jörg Lechler erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten von der Wissenschaft, die diese These lange mit Stirnrunzeln angesehen hat, im vollsten Umfang bestätigt worden (Wiki). So altbacken und "überdreht" war man also in den 1930er Jahren keineswegs. Nehmt das, Ihr deutschen Hasser Eurer eigenen, herrlichen, deutschen Wissenschaftsgeschichte. Über sein Buch heißt es (Jb):

Dr. Lechler stieß bei seinen Forschungen auf Verbindungen von Wikingern und Moslems, woraus sich ein Fragenzusammenhang ergab, der sich zwischen Portugal, Grönland und  Vinland um die vorkolumbianische Entdeckung Amerikas spannt.

Was für ein weiter Blick! Von wegen "germanozentrisches Weltbild". 1983 erschien das schöne Buch von Jörg Lechler "5000 Jahre Deutschland - Germanisches Leben in 700 Bildern" im Nachdruck erneut. Auf Jörg Lechler sind wir schon 2012 in anderem Zusammenhang aufmerksam geworden (18, 19).

Abb. 8: In den 1930er Jahren viel gelesene archäologische Bücher von Gustaf Kossinna, seinem Schüler Jörg Lechler und anderen

Über die vom Museum, bzw. seinem Trägerverein herausgegebene Zeitschrift  heißt es für die frühen 1920er Jahre (Czubatynski 2011):

In dem einzigen, 1924 veröffentlichten Mitgliederverzeichnis wurden noch 317 Personen aufgeführt - eine aus heutiger Sicht immer noch erstaunlich große Zahl. Auch wenn die Zeitschrift auf dünne Hefte schrumpfte, so hatte man es doch durch zähe Arbeit und große Opferbereitschaft geschafft, das Erscheinen trotz Inflation und Weltwirtschaftskrise nicht einstellen zu müssen. Schon allein diese Tatsache muß als großes Verdienst des Vereins gewürdigt werden.

Der Museumsleiter Jörg Lechler hat in dieser Zeitschrift archäologische Themen behandelt und (Czubatynski 2011):

Als eifrigste Autorin ist übrigens mit 69 von 267 Beiträgen die Stiftsdame Annemarie von Auerswald zu nennen. (...) Im übrigen legte der Verein offenbar besonderen Wert auf die Einbeziehung möglichst breiter Bevölkerungsschichten. Dies hatte freilich zur Folge, daß (ähnlich wie in den Heimatkalendern) zahlreiche Aufsätze von geringem Umfang gedruckt wurden, die für die wissenschaftliche Diskussion von relativ geringem Wert waren.

Tja, und das schreibt derselbe Autor, der sich so erstaunt zeigt über die hohe Mitgliederzahl des damaligen Vereins. Ob es wohl zwischen beiden Umständen Zusammenhänge gibt? Wer Wissenschaft popularisieren will, muß populäre Beiträge bringen, das scheint schwer verständlich zu sein. Aber ist Wissenschaft nur für die Wissenschaft da - oder für das Volk, die Gesellschaft, die sie ermöglichen? Vielleicht hatte das Museum Heiligengrabe schon in den 1920er Jahren mehr verstanden als noch heute so mancher heimatkundliche Verein ... ? In der heutigen Ausstellung wird auf der Wandtafel "Wurzeln in der Tiefe, Wipfel im Licht" diesbezüglich ein ganz anderer Ton angeschlagen (2; Min. 4:44):

Das schon weithin bekannte Museum wurde als "Träger der Heimatverbundenheit" gesehen und entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem Zentrum der prähistorischen Forschung in Brandenburg. Heiligengrabe bildete den praktischen und ideellen Stützpunkt für die archäologische Landesaufnahme, deren Ergebnisse 1929 von Walter Matthes (...) im Band "Urgeschichte der Ostprignitz" publiziert wurden.

1929 also sollte der Archäologe und Anthroposoph Walter Matthes (1901-1997) (Wiki) die noch heute als bedeutsam bewertete Überblicksdarstellung "Urgeschichte des Kreises Ostprignitz" herausbringen. Er war zeitweise in Neuruppin zur Schule gegangen und von 1925 bis 1928 mit der Durchführung der archäologischen Landesaufnahme des Landkreises Ostprignitz betraut worden. 

Der deutsche Archäologe Prof. Walter Matthes

Seit 1932 arbeitete Matthes dann im "Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte" des Archäologen Hans Reinerth mit. 1934 wurde er dann Professor für Vorgeschichte an der Universität Hamburg. Diese Professur behielt er bis 1969 inne. Während des Zweiten Weltkrieges gehörte er zur Vorgeschichtsabteilung des Stabes Rosenberg und forschte dabei in Frankreich, Rußland und Italien.

Wie für fast alle mit der deutschen Vorgeschichte verbundenen Menschen vor 1945 war auch die Verbundenheit von Matthes mit dem Nationalsozialismus fast selbstverständlich. Nur Jörg Lechler geriet offensichtlich schon vor 1945 in Zwiespalt. Er war mit einer Jüdin verheiratet, die sich 1936 das Leben genommen hat. Womöglich war dies auch ein Anstoß dafür, daß Lechler eine Professur in den USA übernahm und dann bis an sein Lebensende nur noch für Besuche nach Deutschland kam.

Abb. 9: Ein heidnisches Erntedankfest in Heiligengrabe im September 1933 - Mädchen - offensichtlich der evangelischen Stiftsschule - tragen nachgefertigen Bronzeschmuck - ein frühes Beispiel von Reenactment (offenbar angestoßen und organisiert von Jörg Lechler, der darüber dann auch eine Schrift heraus brachte)

1933 gab Jörg Lechler die kleine Schrift "Das Heimatfest in Heiligengrabe am 10. Scheiding 1933" heraus. Zu dem Heimatfest war auch der neue Gauleiter Kube erschienen und es war von 18.000 Menschen besucht worden. Eindrucksvoll findet sich auf der Titelseite (Abb. 9) dargestellt quasi ein heidnisches, vorgeschichtliches, bronzezeitliches Erntedankfest. Mädchen - wahrscheinlich der evangelischen Stiftsschule in Heiligengrabe - tragen nachgefertigen Bronzeschmuck. Fortschrittlichstes "Reenactment" im Jahr 1933. 

Abb. 10: Die Stiftsdame und Museumsleiterin Annemarie von Auerswald (1876-1945)

Aber es stand natürlich in - aus heutiger Sicht - "falschen" ideologischen Zusammenhängen, deshalb dürfen wir uns heute darüber nicht so ungeteilt freuen wie sich die Menschen damals darüber gefreut haben. Oder doch? Wir wissen es nicht so genau, was eine geistig verrottete, bigotte Meinungsdiktatur in Deutschland uns heute dazu - gegebenenfalls wieder mit Tritten und Schlägen - einbleut.

Die Archäologin Annemarie von Auerswald in Heiligengrabe 1909 bis 1945

Die Stiftsdame Annemarie von Auerswald (1876-3.3.1945) (Wiki) war ab 1909 Mitarbeiterin am Prignitz-Museum Heiligengrabe, 1924 bis 1926 war sie dann wissenschaftliche Hilfsarbeiterin am Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin und 1933 bis 1945 war sie dann Leiterin des Museums in Heiligengrabe. Hören wir nun noch einmal im Zusammenhang eine Darstellung der Arbeit des Museums in Heiligengrabe in dieser Zeit (Werner von Kieckersbusch, Chronik Heiligengrabe, S. 468f):

Die Sammlung wuchs sehr schnell zu einem höchst wertvollen Denkmal der märkischen, insbesondere der Prignitzer Vergangenheit. Unter der sachverständigen Conventualin Annemarie von Auerswald fanden in der näheren und weiteren Umgebung zahlreiche Ausgrabungen statt, die äußert wertvolle und interessante Funde zeitigten. Urnen, Skelette, Waffen, Schmuckgegenstände usw. aus der Stein-, Bronze- und Eisenzeit kamen ans Tageslicht und fanden in dem Museum den ihnen gebührenden Platz. Auch zahlreiche Erinnerungsstücke an die Schlacht von Wittstock wurden hier untergebracht. (...) Unter Beteiligung weiter Kreise der Prignitz wurde im Jahre 1914 ein "Heimat- und Museums-Verein in Heiligengrabe" gegründet, der die Pflege und Mehrung des Museumsgutes übernahm und ein eigenes Mitteilungsblatt herausgab. (...) Es ist höchst bedauerlich, daß die wertvolle Sammlung im Mai 1945 bei der Besetzung durch die Russen restlos vernichtet und ausgeplündert wurde.

Immerhin (Wiki):

Teile des musealen Bestandes konnten von Albert Guthke, der 1936 bis 1941 als Assistent im Heimatmuseum Heiligengrabe tätig war, 1946/47 aufgearbeitet und in den Bestand des 1954 von ihm gegründeten Heimatmuseums Pritzwalk überführt werden. Weitere Exponate wurden auf die umliegenden, neu gegründeten Kreismuseen der Region verteilt.

Ein wesentlicher Bestandteil der Sammlung war übrigens das sogenannte "Hungertuch von Heiligengrabe" (Kieckersbusch, S. 468f):

Das Glanzstück der Sammlung war das sogenannte "Hungertuch", eins der kostbaren alten Kulturgüter der Prignitz. Sehr wahrscheinlich stammt das Tuch (Größe: 3,50 m lang, 1,50 m hoch) aus dem 13. Jahrhundert. In der Mitte war der thronende Christus in der Mandorla dargestellt und zu beiden Seiten in zwei übereinander laufenden Streifen die ganze Heilsgeschichte. Der Reichtum der Erfindung, die zeichnerische Geschicklichkeit und die überaus sorgsame Nadelarbeit machte dieses Stück besonders kostbar. Das Tuch war im Jahre 1888 von dem Lehrer Meyer in der zum Patronat von Heiligengrabe gehörenden Kirche Breitenfeld beim Reinemachen ganz zerdrückt, verstaubt und zerschlissen im Müll gefunden worden. Er verwahrte das ehrwürdige Stück hinter dem Altar, wo es im Jahre 1911 von Paul Quente wieder ans Tageslicht gebracht wurde.

Dieses Hungertuch war auch dem Archäologen Jörg Lechler bedeutsam geworden. Dieser hatte ja mit einer Arbeit über das Hakenkreuz als archäologisches Symbol promoviert. Und in "5000 Jahre Deutschland" schrieb er (S. 211) (zitiert hier nach Google-Bücher-Ausschnitt):

... dies das Hakenkreuz als Sinnbild Wodans bei den Germanen charakterisierte, so auf dem Hungertuch in Heiligengrabe in der Mark Brandenburg (Abb. 683).

Er geht noch weitere Beispiele durch, die, so Lechler, zeigen (S. 211),

wie stark die Kirche es für eine Notwendigkeit erachtete, die heidnischen Symbole mit christlichen Werten zu erfüllen.

"Die heidnischen Symbole mit christlichen Werten erfüllen" - was alles mit diesen wenigen Worten gesagt ist. Geschieht das nicht seit 2000 Jahren und heute mehr als je: das wertvolle nicht-monotheistische Entwicklungen mit monotheistischen oder sonstigen okkulten Werten erfüllt werden und damit praktisch "gehijackt" werden, "übernommen" werden und in eine ganz andere Richtung weiter geführt werden als es ihnen ursprünglich innelag? Annemarie von Auerswald hat Sachbücher veröffentlicht, hervorgehend aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit (2), ebenso Romane im völkischen Geist der damaligen Zeit. Ob sie heute in ihrer Gänze noch lesbar sind, stehe dahin. 1940 etwa veröffentlichte sie die Erzählung "Die Tochter vom Gerwartshof". Darüber heißt es in einer Rezension (Stef. Cramme 2004):

Die Buchkarte eines ehemaligen Exemplars der Volksbücherei Köln trägt die Annotation "Anschauliche Darstellung altgermanischen Lebens zur Zeit der Völkerwanderung. Für Mädchen geeignet".

Die Handlung der Erzählung und die vermittelten Werte entsprechen dem Zeitgeist Ende der 1930er Jahre. Es geht um die Bewahrung und Gewinnung von Siedlungsland, ebenso wie um die Bewahrung von Rassereinheit. Und es geht um das gute und schlechte Werben von Männern um ein junges Mädchen und ihre Reaktionen darauf.

"Dienen lerne beizeiten das Weib" - Im adligen Mädcheninternat in Heiligengrabe

Das Damenstift Heiligengrabe hat auch ein Mädcheninternat betrieben. Ziel desselben war es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die Mädchen zu Hauslehrerinnen und Gouvernanten auszubilden, um sie wirtschaftlich unabhängiger zu machen als sie es sonst wären (Ortrud Wörner-Heil, S. 420). Erziehungsideal war noch in der Vorkriegszeit jenes "Dienen lerne beizeiten das Weib" aus Goethes Hermann und Dorothea, ein Ideal, gegen das sich eine völkische Reformerin wie Mathilde Ludendorff (1877-1966) schon in ihrer Jugend empört hatte, und gegen das sich schon während des Ersten Weltrkieges auch die Internatsschülerinnen in Heiligengrabe begannen aufzulehnen. So etwa die nachmalig bekannter gewordene Wagner-Enkelin Friedelind Wagner (1918-1991) (Wiki). Auch eine Tisa von Schulenburg ist in den 1930er Jahren in Heiligengrabe am Damenstift zur Schule gegangen. Ihren 1983 veröffentlichten Erinnerungen an diese Zeit gab sie den Titel "Des Kaisers weibliche Kadetten". Als solche wurden die Schülerinnen des Internats jedenfalls angesprochen, wenn damit - bis auf einen asketischen Lebenswandel - nur wenig konkreten Inhalte verbunden sein konnten. Aus der Sicht sprühlebendiger Jugend schreibt sie in ihren Erinnerungen über die Stiftsdamen (zit. n. Ortud Wörner-Heil, S. 422):

Die alten Damen in den Häuschen schienen uns unvorstellbar alt, verhutzelt, seltsam.

Nun, es ist zu berücksichtigen, daß ein solches Damenstift ja immer auch Altersheim war. Und wenn die Stiftsdamen noch Anfang des 20. Jahrhunderts eine vom Kaiser eingesetzte, vormals verheiratete Äbtissin ablehnten eben nur deshalb, weil sie schon einmal verheiratet war, so darf man doch vermuten, daß sich an diesem Stift auch unglaublicher christlich-moralischer Unrat halten konnte. Ansonsten hätte man ja ein solches Zusammenleben von Jung und Alt durchaus auch als etwas Fortschrittliches empfunden können. Daß aber überhaupt adlige evangelische Damen praktisch wie katholische Nonnen lebten, ist ja insgesamt eine etwas merkwürdige Erscheinung. Somit gab es im Damenstift Heiligengrabe offensichtlich beides: Sprühende Lebendigkeit und Fortschrittlichkeit einerseits ebenso wie eingetrockneter, christlicher Obskurantismus andererseits. Aber die Vorgeschichtsforschung und der Erste Weltkrieg scheinen doch manche frische Luft in die moralisch stickige Klosterluft gebracht zu haben. Wird doch für die Zeit nach 1918 als Beispiel für Themenstellungen von Schulaufsätzen genannt (Ortrud Wörner-Heil, S. 427):

"Was kann ich tun zur Wiederbelebung des deutschen Geistes?"

Nun, wirklich eine Frage, die man noch heute - oder gerade heute - als elementar empfinden kann, und die man wohl nur sinnvoll wird beantworten können jenseits aller christlichen Muffigkeit. Die Internatsschülerin Elsbeth von Oppen besuchte das adlige Mädcheninternat bis 1920, sie (Ortrud Wörner-Heil, S. 424)

erlebte eine Welt der Unruhe und des Umbruchs. sie erlebte den erzieherischen vaterländischen Geist im Krieg, der nach dem Krieg bei vielen - Lehrkräften wie auch Mitschülerinnen - als nationale Wiedergeburt neue Zielrichtung fand. Sie erlebte aber auch aufmüpfige Mitschülerinnen, die nicht mehr des Kaisers Kadetten sein wollten und außerdem verstörte, von der Kriegsniederlage und der Revolution erschütterte Stiftsdamen.

Merkwürdig genug wäre es, wenn die Stiftsdamen nicht verstört und erschüttert gewesen wären. Aber auffallend genug, daß eine solche Erscheinung heute, wo es ebenfalls genug Anlaß für Verstörung und Erschütterung über die Schicksale unseres deutschen Vaterlandes gibt, quasi als "ungewöhnlich" charakterisiert werden kann. Auch

hatten sie sich schon vorher empört gezeigt über das "Dienen lerne beizeiten das Weib" aus Goethes Hermann und Dorothea. (...) Tisa von der Schulenburg nahm sich Lily Braun (...), die aus ihrer Standeswelt ausgebrochen war, zu ihrem Vorbild.

Die mit einem Juden verheiratete Adelstochter und Sozialdemokratin Lily Braun war nun zufälligerweise gerade in jener Zeit eine Freundin der nachmaligen Lebensreformerin Mathilde Ludendorff. Es wird also sehr deutlich, daß sich diese Mädchen und das zugehörige Damenstift in einem Spannungsverhältnis bewegten, das sehr kennzeichnend für die damalige Zeit war und sich im Grunde bis heute nicht gelöst hat - es sei denn in Form von Gedankenlosigkeit und Geschichtsvergessenheit der Deutschen. Aber ist das eine "Lösung"?

Das Fotoarchiv des Stiftes Heiligengrabe umfaßt Zeitdokumente der Jahre 1880 bis 2000, in ihm sind auch Fotografien vom erwähnten - wegweisenden - Heimatfest aus dem September 1933 enthalten, weshalb um so mehr angenommen werden kann, daß an dem damaligen "Reenactment" die Stiftsschülerinnen Anteil genommen haben. An Inhalten des Archivs werden aufgezählt (Fotoerbe):

Zahlreiche Porträtaufnahmen von Äbtissinnen, Stiftsdamen, Stiftsschülerinnen, Stiftshauptmännern und -pröpsten aus der Zeit der Stiftsschule von ca. 1880 - 1945/ (1997);
Ansichten von Bauten (Abtei, Kirche, Kapelle, Friedhof, Damenplatz, Klostergelände und Wirtschaftgebäude); Innenansichten von der Abtei, Kirche und Kapelle; Landschaftsaufnahmen von der Umgebung Heiligengrabes;
Kaiserbesuch (Wilhelm II. in Heiligengrabe 1903); zahlreiche Aufnahmen vom Alltag und Schulleben der Höheren Mädchenschule in Heiligengrabe (Klassenzimmer, alle Klassenzüge, Lehrerinnen/Stiftsdamen; Ausflüge/Klassenfahrten;
Heimatfest 10.9.1933 in Heiligengrabe; private Fotos z.T. aus dem Nachlaß einzelner Stiftsschülerinnen; Innenaufnahmen u. Eingangssituation (Abteiinnenhof) vom ehemaligen Heiligengraber Heimatmuseum (1909-1945);
als professionelle Fotografen sind in einigen Fällen nachweisbar Max Zeisig (Perleberg), Albert Schwarz (Hoffotograf, Berlin), Paul Donnerhack (Atelier Wittstock/Pritzwalk/Meyenburg), L. Haase und Comp. Berlin (Königl. Hoffotogr.) etc.
Die Fotos stammen z.T. aus dem Nachlaß ehemaliger Stiftsdamen und -schülerinnen; aus dem Depositum des Stiftsarchivs; auch Schenkung Sammlung Nora Neese und „Verein ehemaliger Heiligengraberinnen“; darunter ganze Fotoalben aus dem Privatbesitz ehemaliger Schülerinnen; kein Ankauf. Benutzung: Einsichtnahme nur nach vorheriger Absprache möglich; Bestand z.T. nur eingeschränkt zugänglich; Veröffentlichungen nur nach Genehmigung  [Quelle: Mitteilung des Museums Kloster Stift zum Heiligengrabe, 30.03.2011]

In dem "Reenactment" von heidnischen bronzezeitlichen Frauen im September 1933 darf man - wenn man möchte - durchaus ebenfalls Auflehnung sehen gegen das bigott-christliche Erziehungsziel "Dienen lerne des Weib".

Abb. 11: Albert Guthke (entnommen: Pawelka, ‎Foelsch, ‎Rehberg: Städte der Prignitz, 2004, S. 83, GB)

Wissen doch die heidnischen isländischen Sagas und die heidnische Edda, die dem Geist der Nordischen Bronzezeit sicherlich näher stehen als alles orientalische Christentum von einer ganz anderen seelischen Haltung von Frauen zu berichten als sie in Goethes Hermann und Dorothea wiederzufinden ist.

Albert Guthke - Er sammelte die Reste ein

Nachdem Annemarie von Auerswald im März 1945 gestorben war, blieb das weitere Schicksal der vorgeschichtlichen Sammlung von Heiligengrabe mit dem Namen Albert Guthke (1900-1981) (Wiki) verbunden:

Er stammte aus einer alteingesessenen Bauernfamilie aus Dahlhausen, einem Ortsteil von Heiligengrabe in der Prignitz. Diese Herkunft war für Albert Guthke prägend.

Prägend, so darf man vermuten, weil ja ebendort eine der frühen Ausgrabungen von Paul Quente stattgefunden hatte, die Guthke als Jungen beeindruckt haben mag (s.o.). Guthke (Wiki)

studierte 1919 bis 1926 Deutsch, Geschichte und Philosophie. (...) 1936 bis 1941 war er tätig als Assistent im „Heimatmuseum für die Prignitz“ im Kloster Stift zum Heiligengrabe unter der Leitung von Annemarie von Auerswald.

Wahrscheinlich ist er im Mai 1945 - wie so viele damals - mit seiner Familie über die Elbe geflüchtet, denn weiter heißt es (Wiki):

1945 bis 1946 als Museumspfleger am Museum Lüneburg, anschließend als Museumsleiter in Kyritz und schließlich in Pritzwalk. 1954 bis 1958 studierte er an der Fachschule für Heimatmuseen in Köthen und Weißenfels. 1946 bis 1960 lebten er und seine Familie in Dahlhausen und ab 1960 in Pritzwalk. Nachdem zum Ende des Zweiten Weltkrieges das „Heimatmuseum für die Prignitz“ im Kloster Stift zum Heiligengrabe geschlossen und die ehemals reiche ur- und frühgeschichtliche Sammlung fast völlig vernichtet worden war, arbeitete Albert Guthke die Reste des musealen Bestandes 1946/47 auf und überführte sie in den Bestand des 1954 von ihm gegründeten Heimatmuseums Pritzwalk, weil ein Wiedererstehen eines Ostprignitz-Museums im kirchlichen Stift Heiligengrabe politisch nicht erwünscht war. Er wirkte als Leiter des Heimatmuseums bis zum Ruhestand im Jahr 1972. Dabei leistete er einen Beitrag zur Erforschung der Prignitz mit der Herausgabe von wissenschaftlicher Veröffentlichungen, insbesondere der zweibändigen Schriftenreihe "Prignitz-Forschungen" (Pritzwalk, 1966 und 1971). 

/ Diese vorliegende Darstellung soll in allen Teilen künftig noch ergänzt werden. /

/ Um eine neue Einleitung ergänzt 4.10.19 /
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  1. Ortrud Wörner-Heil: Adelige Frauen als Pionierinnen der Berufsbildung: Die ländliche Hauswirtschaft und der Reifensteiner Verband. Kassel University Press 2010 (GB
  2. Bading, Ingo: Das Prignitz-Museum für Vorgeschichte in Heiligengrabe - Kurze Videoaufnahmen, 23.7.2019, https://youtu.be/Bov71hLty_k, 2. Teil: https://youtu.be/IrbDUahATmA
  3. Quente, Paul: Das langobardische Urnenfeld von Dahlhausen (um 200-500 nach Chr.) Prignitzer Volksbücher, Heft 39, 1913
  4. Quente, Paul. Ein germanisches Dorf bei Kyritz. In: Mannus 1914, S. 97ff (GB)
  5. Matthes, Walter: Urgeschichte des Kreises Ostprignitz. C. Kabitzsch, Leipzig 1929 (GB)
  6. Matthes, Walter: Die Germanen in der Prignitz zur Zeit der Völkerwanderung im Spiegel der Urnenfelder von Dahlhausen, Kuhbier und Kyritz. Nach den Arbeiten von Paul Quente, Georg Girke und Jörg Lechler. Dem Gedächtnis Paul Quentes gewidmet. C. Kabitzsch, 1931 (138 S.) (GB)
  7. Matthes, Walter: Die nördlichen Elbgermanen in spätrömischer Zeit. Untersuchungen über Kulturhinterlassenschaft und ihr Siedlungsgebiet unter besonderer Berücksichtigung brandenburgischer Urnenfriedhöfe. C. Kabitzsch, 1931 (114 S.)
  8. Werner von Kieckersbusch: Chronik des Klosters zum Heiligengrabe - Von der Reformation bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Verfaßt bis 1949, veröffentlicht: Lukas-Verlag 2008 (GB), S. 468 
  9. Czubatynski, Uwe: Die Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz 11 (2011), S. 129ff (pdf)
  10. Koch, Julia Katharina: Frauen in der Archäologie - eine lexikalisch-biographische Übersicht. In: Jana Esther Fries, Doris Gutsmiedl-Schümann (Hrsg.): Ausgräberinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Ausgewählte Porträts früher Archäologinnen im Kontext ihrer Zeit. 2013 (GB), S. 260
  11. Hans Joachim Bodenbach: Der Archäologe Walter Matthes als Erforscher der Ostprignitz. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz, [ehemaliger Landkreis Ostprignitz], Bd. 15 (2015)
  12. Romeyke, Sarah: Vom Nonnenchor zum Damenplatz. 700 Jahre Kloster und Stift zum Heiligengrabe, Kultur- und Museumsstandort Heiligengrabe Bd. 1, Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2009 
  13. Romeyke, Sarah: Preußens Töchter. Die Stiftskinder von Heiligengrabe 1847–1945, Kultur- und Museumsstandort Heiligengrabe Bd. 5,  Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2015 (GB)
  14. Ruch, Christamaria: Sarah Romeyke spricht über den Initiativpreis für das Museum im Kloster Stift zum Heiligengrabe - Auf den Spuren einer verlorenen Sammlung. In: Märkische Allgemeine Zeitung, 7.2.2015, https://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Sarah-Romeyke-spricht-ueber-den-Initiativpreis-fuer-das-Museum-im-Kloster-Stift-zum-Heiligengrabe
  15. Ruch, Christamaria: Museum in Heiligengrabe - Neue Ausstellung wird im Kloster vorbereitet. In: Märkische Allgemeine, 21.03.2016, https://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Neue-Ausstellung-wird-im-Kloster-vorbereitet
  16. Ruch, Christamaria: Neue Dauerausstellung im Kloster Stift Heiligengrabe. In: Märkische Allgemeine Zeitung, 17.05.2017, https://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Neue-Dauerausstellung-im-Kloster-Stift
  17. o.V.: Zur Geschichte des Museums. https://klosterstift-heiligengrabe.de/kloster/klosteranlage/museum
  18. Bokelmann, Christine: Museum im Kloster Stift zum Heiligengrabe. Flyer o.D. [nach 2015] 

Jörg Lechler

  1. Propst, Ernst: Kurzbiographie des Archäologen Jörg Lechler. Archäologie-News, 26.9.2005
  2. Lechler, Jörg: Vom Hakenkreuz. Die Geschichte eines Symbols. Mit Geleitwort von [Hans] Hahne. Curt Kabitzsch-Verlag, Leipzig  1921 (= Vorzeit. Nachweise und Zusammenfassungen aus dem Arbeitsgebiet der Vorgeschichtsforschung, Band 1) (Justbooks) (27 S. Text, 351 Abb. = 89 S.); 2. erw. u. vermehrte Auflage 1934,  https://archive.org/ stream/VomHakenkreuz/Vom%20  Hakenkreuz#page/n0/mode/2up; Woher kommt das Hakenkreuz? Geschichte des Symbols und internationale Verbreitung. "Faksimileausgabe der beiden gesuchten Werke von J. Lechler 'Vom Hakenkreuz. Die Geschichte eines Symbols' und W. Scheuermann 'Woher kommt das Hakenkreuz' aus den Jahrer 1921/1933. Verlag Roland Faksimile, Bremen 2001 (104 S.)
  3. Lechler, Jörg: [Dorfgeschichte Ostprignitz] In: Mannus: Zeitschrift für Vorgeschichte, C. Kabitzsch (A. Stuber's Verlag), 1923, S. 36 (GB)
  4. Lechler, Jörg: Der Paläontologe. In: Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe 7/1925, S. 23f
  5. Lechler, Jörg: Enis Errettung - Eine lehrhafte und doch gruselige Geschichte aus der Steinzeit Mitteldeutschlands. In: Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe 9/1926, S. 1ff
  6. Lechler, Jörg: Das Gräberfeld auf dem Sehringsberge bei Helmsdorf. Verlag Curt Kabitzsch, Leipzig  1927 (66 S.) (Google Bücher)
  7. Kossinna, Gustaf: Altgermanische Kulturhöhe. Leipzig EA 1927 (seit der 4. Auflage 1934 mit Bildern versehen von Jörg Lechler)
  8. Lechler, Jörg: Das Heimatfest in Heiligengrabe am 10. Scheiding 1933. Heiligengrabe 1933
  9. Lechler, Jörg: Vor 3000 Jahren. Ein frühgermanisches Kulturbild. Brehm 1934; Volk und Wissen Band 5. Stenger, Erfurt 1939 (31 S.) (Google Bücher)
  10. Gautier, Emile F. und Jörg Lechler (Hrsg.): Geiserich, König der Wandalen. Die Zerstörung einer Legende.  Societäts-Verlag, Frankfurt/Main 1934, 1940 (365 S.)
  11. Lechler, Jörg: Germanische Vorgeschichte. Band 137 der Stoffsammlung für die Arbeit der Albert-Forster-Schule, bzw. für die Schulungsarbeit der Deutschen Angestelltenschaft. Verlag Hauptamt f. Schulung d. Dt. Angestelltenschaft, Albert-Forster-Schule, 1934, 1935 (51 S.)
  12. Lechler, Jörg: Sinn und Weg des Hakenkreuzes. In: Der Schulungsbrief, Dezember 1935 (hrsg. vom  Reichsschulungsamt der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront) (41 S.); engl. unter "Meaning and Path of the Swastika" (o.J.) 
  13. Lechler, Jörg: Ein germanisches Kultfest vor 3000 Jahren. Erläuterung zu dem Anschauungsbilde "Germanische Sonnenwendfeier (Bronzezeit)" (Bilder zur deutschen Vorgeschichte Nr. 8) Wachsmuth, 1935 (21 S.)
  14. Lechler, Jörg: "Heil!", in: Der Schulungsbrief, hrsg. v. Reichsschulungsamt der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront, Berlin, April 1936, 3. Jg., 4. F., S. 129
  15. Andree, Julius; Weinert, Hans; Lechler, Jörg: Das Werden der Menschheit und die Anfänge der Kultur. Mit 348 Textbildern und 7 Beilagen. Deutsches Verlagshaus Bong & Co.,  Berlin/Leipzig,  [1936] (404 S.)
  16. Lechler, Jörg: 5000 Jahre Deutschland. Eine Führung in 700 Bildern durch die deutsche Vorzeit und germanische Kultur. Verlag C. Kabitzsch 1937 (217 S.) (Google Bücher);  Faks. d. Ausg. v. 1937 mit dem Untertitel "Germanisches Leben in 700 Bildern" im Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur, 3. Aufl. 1983 (Amaz.)
  17. Lechler, Jörg: Die Entdecker Amerikas vor Columbus. Mit einem Beitrag von Edward F. Gray, Genralkonsul a. D.. Verlag Curt Kabitzsch, Leipzig 1939 (118 S.); Faksimile-Verlag / Bremen 1992 (= Forschungsreihe Historische Faksimiles)
  18. Bading, Ingo: Nur bruchstückhaft bekannt - Aufsätze Mathilde Ludendorffs vor 1927. Studiengruppe Naturalismus, 10.6.2012, https://studiengruppe.blogspot.com/2012/06/die-nur-bruchstuckhaft-bekannten.html
  19. von Kemnitz, Mathilde: Das Hakenkreuz. In: Der Weltkampf. Monatsschrift für die Judenfrage aller Länder, 1. Jg., Folge 5, Oktober 1924 (Hrsg. von Alfred Rosenberg), S. 25 - 29 (Scribd)

Montag, 15. Juli 2019

Unislaw - Ein Dorf im Kulmer Land an der Weichsel

Das westpreußische Dorf Unislaw an der Weichsel in den Jahren 1919 bis 1949
Gliederung:
A. Leben vor 1939
B. Grausamkeiten im September 1939 und danach
C. Die Flucht und die Kämpfe um die Festung Thorn Januar/Februar 1945
D. Hunger, Seuchen, Zwangsarbeit, Grausamkeiten, Deportationen nach Sibirien (bis 1949)

Mit dem Dorf Unislaw (Kulmisch Wenzlau) (Wiki) an der Weichsel  beschäftigte sich der erste Teil dieses Aufsatzes (Preußen lebt) aus dem Anlaß, daß in einer internationalen Archäologie-Zeitschrift von der Ausgrabung einer mittelalterlichen Ordensburg daselbst von Seiten polnischer Archäologen der Universität Thorn berichtet worden war. Der Aufsatz gibt auch nicht andeutungsweise ein Wissen von den schweren Schicksalen der Bewohner dieses Dorfes im Zwanzigsten Jahrhundert kund, und daß diese Bewohner zu mindestens einem Drittel seit der Ordensritterzeit Deutsche waren. Deshalb soll in diesem zweiten Teil einiges über das berichtet werden, was die Bewohner in Unislaw zwischen 1919 und 1949 erlebten. Erst nach längerer Recherche stoßen wir darauf, daß der Westdeutsche Rundfunk im Jahr 2009 eine Dokumentation erstellt hat (4), in der einiges von dem Schicksal des Dorfes Unislaw - aufgrund der Erinnerungen eines ehemaligen deutschen Bewohners (Hanno Henatsch) - sehr unmittelbar zur Sprache kommt. Der Film ist - nicht nur deshalb - sehr bewegend. Er vermittelt auch allgemein einen wertvollen Eindruck von dem Leben und Schicksal der deutschen Minderheit im polnischen Machtbereich in der Zwischenkriegszeit.

Worauf aber auch der Film nur sehr kurz an seinem Ende hinweist, ist wiederum der Umstand, daß fast jeder Ort, der von Deutschen bewohnt worden war östlich der Elbe im Jahr 1945 schwere bis schwerste Schicksale erlebt hat, daß seine Bewohner durch die Hölle auf Erden gegangen sind. All dies sei im folgenden aufgezeigt anhand des Beispiels des Dorfes Unislaw in Westpreußen, soweit dies aufgrund der Quellenlage möglich ist.

In Unislaw gab es eine Zuckerfabrik, die zugleich Kunsthonigfabrik war. Sie war weit über das Dorf hinaus bekannt unter dem Namen "Unamel". Ihr Inhaber war die Familie des Fabrikdirektors Henatsch, des Vaters des schon erwähnten Hanno Henatsch. 

Abb. 1: Der Bahnhof und die Zuckerfabrik von Unislaw - Postkarte, aus der Zeit vor 1914

Die Firma trug in den 1920er Jahren den Namen "Unamel".

Die Familie Henatsch in Unislaw

1919 hieß es in der Chemiker-Zeitung über ihren Inhaber und Fabrikdirektor (siehe Google Bücher):

Dr. Wilhelm Henatsch beging am 1. April sein 25-jähriges Jubiläum als Direktor der Zuckerfabrik Unislaw.

Seit dem 19. Jahrhundert war die Fabrik im Besitz der Familie Henatsch und ging in jener Zeit von Dr. Wilhem Henatsch Vater auf Dr. Wilhelm Henatsch Sohn über. Wilhelm Henatsch Sohn wurde der "König von Unislaw" genannt und war eine eindrucksvolle Unternehmer-Persönlichkeit, wie sich sein Sohn Hanno erinnert (4, 17:30). 1922 erbaute die Familie in Unislaw auch eine prächtige Villa, die heute nicht mehr in einem so schönen Zustand wie damals ist und von polnischen Familien bewohnt wird (4, 18:30).

Aufgrund des Versailler Vertrages kam das Kulmer Land, zu dem Unislaw gehörte, am 20. Januar 1920 ohne Volksabstimmung unter polnische Oberhoheit. Über den Anteil der Nationalitäten im Landkreis Kulm (also im Kulmer Land) ist schon im ersten Teil berichtet worden. 1910 lebten in ihm 28.000 Katholiken neben 20.000 Protestanten (Wiki), wobei fast alle Katholiken Polen und fast alle Protestanten Deutsche waren. Dies war auch schon 1821 so gewesen, als dort 17.000 Katholiken neben 12.000 Protestanten (Wiki) gelebt hatten. Die Deutschen hatten im Land seit Jahrhunderten den wirtschaftlich und kulturell dominierenden Volksteil dargestellt, auch dort, wo sie zahlenmäßig in der Minderheit waren. Auch der Domänenpächter in Unislaw trug 1876 zum Beispiel einen deutschen Namen, ebenso ein anderer Bauer ("Besitzer"). Ein Organist des Dorfes trug einen polnischen Namen (GB).

Der Reichstagswahlkreis Marienwerder, zu dem Unislaw mit dem Kreis Kulm gehörte, hatte bis 1912 in unregelmäßigem Wechsel einmal einen Abgeordneten der Polnischen Fraktion in den Reichstag gewählt, einmal einen Abgeordneten der deutschen Nationalliberalen Partei (Wiki). In Unislaw selbst wurden Dorf und Gut voneinander unterschieden. In beiden gab es jeweils zwei Drittel Polen und ein Drittel Deutsche, im Dorf 247 Polen und 115 Deutsche, auf dem Gut 125 Polen und 45 Deutsche (1, S. 136). Diese Zahlen machen also klar: Dies war nicht nur die Heimat von Polen, sondern seit vielen Jahrhunderten auch die Heimat von Deutschen. Wie weiter unten noch sichtbar wird, gab es im Land selbst viele Polen, die den Deutschen wohlwollend gegenüber standen, ebenso umgekehrt. Oft wurde der Haß zwischen beiden Volksteilen von außen in dieses Land hinein getragen von Seiten von Menschen, die es nicht seit Jahrhunderten gewohnt waren, Tür an Tür mit Menschen einer anderen Volkszugehörigkeit zusammen zu leben.

Abb. 2: Unislaw vor 1914 - Postkarte

Aufgrund der äußeren politischen Verhetzung mußten dann bis 1939 eine Million Deutsche aus dem nun polnischen Machtbereich ihre Heimat verlassen. Auf einem Dorf wie Unislaw konnten die Deutschen in dieser Zeit weitaus weniger leicht verdrängt werden als aus einer Stadt wie Graudenz, wo viele Deutsche zuvor im Staatsdienst gearbeitet hatten, zu dem sie nun vom polnischen Staat nicht mehr zugelassen wurden. 

Es wird berichtet von der zwangsweisen Einschulung der deutschen Kinder in polnische Schulen und von den Schwierigkeiten der Deutschen im Landkreis Kulm, eine deutsche Privatschule betreiben zu können (2). Ebenso gab es von polnischer Seite aus viele Bemühungen, den deutschen Unternehmern das Leben schwer zu machen, um sie zum Verlassen des Landes zu bringen. Aber (5, S. 124):

Auch die ländliche deutsche Industrie will sich nicht unterkriegen lassen. In Unislaw gründet Dr. Wilhelm Andreas Henatsch, Hannos Vater, 1922 eine Fabrik für Kunsthonig, die "Unamel".

In Kulm gelang es, eine Grundschule als deutsche Privatschule betreiben zu können (2). Die Kinder des Fabrikdirktors Dr. Wilhelm Henatsch (1895-1945) und seiner Frau  Elisabeth Henatsch (geb. Böning) (1896-1989) (MyHeritage) wurden aber in den ersten vier Grundschulklassen von einem Hauslehrer unterrichtet. Das Paar hatte 1921 geheiratet und es kamen sechs Kinder auf die Welt, die alle in Unislaw geboren worden waren (Geni, Ancestry): Wilhelm (1922), Johannes (1923), Hanno (1924), Aleit (1926), Sophie (1927) und Christoph (1929).

In der "Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zucker-Industrie" und ähnlichen Zeitschriften wird Wilhelm Henatsch seit 1899 oft erwähnt, wobei es sich zunächst um den Vater, dann den Sohn handeln wird. Beide waren also auch in der Verbandsarbeit der deutschen Zuckerindustrie sehr rührig tätig (siehe Google Bücher). Die Erinnerungen der Familie an die Jahre 1945 und 1946 sind enthalten in der "Dokumentation der Vertreibung" (3), die von Hanno Henatsch auch in der schon genannten WDR-Dokumentation des Jahres 2009 (4-6). In ihr erzählt er vor der Kamera aus seinem Leben (z.B. 4, Minute 3:38):

Die ersten vier Schuljahre haben wir nicht in der polnischen Volksschule absolviert, sondern wurden unterrichtet durch Hauslehrer. Natürlich kam da die polnische Sprache viel zu kurz. Der Hauslehrer, der konnte ja kaum Polnisch.
Abb. 3: Blick in die deutsche Goethe-Schule in Graudenz, eingeweiht 1933, vorne eine Nachbildung der Naumburger Stifterfiguren

Und es wird auch berichtet (5, S. 145):

Ein Landei wie Hanno Henatsch, der 1933 aus Unislaw nach ....

Mit sieben Jahren wurde Hanno Henatsch ab 1933 auf die im selben Jahr eingeweihte, im Bauhaus-Stil errichtete große deutsche Goetheschule nach Graudenz geschickt (4, 11:10). Eine Goetheschülerin berichtet was auch sonst in dem Film deutlich wird, auch anhand der Inneneinrichtung der Goetheschule Abb. 3) (4, 22:55):

Wir waren wirklich deutsch. Und wir waren uns dessen auch bewußt. Ich glaube, wir waren deutscher als die Deutschen im Reich. Und waren es gerne.

Nach der Machtübernahme der NSDAP im Deutschen Reich hat sich diese junge Generation der "Auslandsdeutschen" - wie fast überall in Ostmitteleuropa und auch außerhalb von Europa - zunehmend stärker dem Nationalsozialismus zugewandt. Die deutsche Jugend im polnischen Machtbereich war unter anderem im "Wanderbund" organisiert, der sich immer mehr an der Hitlerjugend orientierte (5, S. 150):

Daß der Wanderbund in diesen Jahren der Hitlerjugend immer ähnlicher wird, können die Zeitzeugen nur bestätigen. "Wir waren die besseren Nazis!" Hanno Henatsch quält die Frage, warum er sich hat verführen lassen, immer noch. "Wahnsinn!" Wer noch ein bisschen Verstand im Kopf gehabt ...

Wenn man sich allerdings die damalige Unterdrückung der Deutschen im polnischen Machtbereich klar macht und ihre Verdrängung aus demselben, wenn man sich zugleich die stark nationalistisch organisierte gleichaltrige polnische Jugend veranschaulicht, dann wird es wohl nicht mehr so schwer sein nachzuvollziehen, daß sich die junge Generation der deutschen Volksgruppe innerlich einer Bewegung innerhalb des Reiches zugewandt hat, die für eine machtvolle deutsche Außenpolitik einstand. Die Lage für die deutsche Volksgruppe im polnischen Machtbereich konnte sich dadurch allerdings insgesamt nicht verbessern, im Gegenteil. Und das war auch vielen älteren Angehörigen der deutschen Volksgruppe bewußt, die oft zur Mäßigung rieten. All diese Entwicklungen sollten dann bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die schrecklichsten Folgen nach sich ziehen.

September 1939 - Unislaw erlebt die Verschleppungsmärsche der Deutschen

Im September 1939, bei Kriegsbeginn kam es zur Verschleppung und Ermordung tausender von Angehörigen der deutschen Volksgruppe im polnischen Machtbereich. Diese Vorgänge gingen in die Geschichte ein unter dem Schlagwort vom "Bromberger Blutsonntag", weil die deutsche Wehrmacht hier erstmals auf dieses Geschehen stieß und weil das dortige Geschehen sofort von der Propaganda des Deutschen Reiches ausgeschlachtet wurde. Diese Vorgänge spielten sich aber in ganz Polen ab, nicht nur in Bromberg. Zunächst waren die führenden Angehörigen der deutschen Volksgruppe von den polnischen Behörden interniert worden. Sie sollten schließlich in ein großes Konzentrationslager für Deutsche bei Warschau überführt werden (2, S. 281f):

Seit März 1939 verschärften sich die antideutschen Maßnahmen der Behörden. Durch Verweigerung von Zahlungsaufschüben und rücksichtslose Pfändung zwecks Steuereintreibung wurde deutschen Firmen die Existenzgrundlage entzogen, so auch der Kunsthonigfirma "Unamel" des Dr. Henatsch in Unislaw. (...) Mit Kriegsausbruch setzte die Verhaftungswelle ein und dauerte bis zum 2. 9. an. Am 1. 9. wurden die Gefängnisse geöffnet. Am Abend befahl der Starost den Polizeistationen, die "entlassenen Häftlinge deutscher Nationalität sofort festzunehmen und in Richtung Unislaw zu dirigieren". Die Verhafteten wurden, da keine Bahnverbindung mehr vorhanden war, meist gefesselt über Unislaw - wo sie mit den Graudenzer zusammentrafen - nach Thorn gebracht. Hierher kamen auch die Internierten aus anderen Kreisen. Von Thorn aus mußten sie entweder am Verschleppungsmarch nach Lowitsch oder nach Warschau teilnehmen.

Ein Verschlepptenzug von 43 "führenden" Angehörigen der deutschen Minderheit aus dem Kreis Schwetz Richtung Warschau kam ebenfalls durch Unislaw und wurde dann über Thorn Richtung Lowitsch dirigiert. Schwetz liegt am linken Flußufer der Weichsel gegenüber von Kulm. Es sei hier auszugsweise zitiert, was ein Teilnehmer dieses Zuges, der Schwetzer Arzt Dr. med. Studzinski, über diesen grauenhaften Marsch, über die vielen Gewalttaten, Erschießungen und Massaker, die diesen Zug begleiteten, gleich nach seiner Befreiung durch die Wehrmacht, also noch 1939 aufgeschrieben hat. Studzinski war zunächst in Einzelhaft genommen worden, wurde dann aber nach und nach mit anderen Verhafteten zusammen gebracht (7):

.... Wir machten von jetzt ab gemeinsam den Höllenmarsch in treuer Kameradschaft  bis nach Lowitsch mit; es war bei unserem Abmarsch der 2. September. Alte Herren über 70 Jahre, schwer Herzkranke, sie waren dabei, es gab kein Erbarmen. Unser Senior, Herr Schulz aus Dragaß, hatte sage und schreibe ein Alter von 82 Jahren. Über die Schwarzwasser-Brücke zwischen der Ordensburg des Heinrich von Plauen und der Ordenskirche, ging dann dieser Zug, bewacht von Polizei und Hilfspolizei nach der Kulmer Fähre. (...) Wir hörten von der Beschießung von Graudenz und langsam stieg die Hoffnung in uns auf, daß wir vielleicht nicht mehr über die Weichsel kommen würden. Doch (...) ein Dampfer mit Prahm setzte uns über. Es ging durch die Stadt  Kulm bis zum dortigen Landratsamt. (...) Hier bei dem Spießrutenlaufen durch die Stadt bekamen wir zum ersten Male die unflätigsten Beschimpfungen und Schmähungen der Bevölkerung zu spüren. "Schlagt doch die  deutschen Hunde tot! Wozu transportiert ihr die deutschen Schweine noch weiter? Jagt sie doch in  die Weichsel!" So geiferte die wilde Horde. (...) Auf der Chaussee nach Unislaw ging es weiter bis zu einem Bahnhof. (...) Dann wurden deutsche Bauernwagen requiriert, auf denen wir bis Unislaw fuhren. (...) Durch Unislaw wurden wir wieder beschimpft, dann auf dem Bahnhof in aller Eile verladen, und weiter ging es per Bahn nach Thorn. Bekamen wir in Kulm und Unislaw schon Schmähungen und Beschimpfungen zu hören, so steigerte sich dieses abscheuliche Betragen der Bevölkerung in Thorn um ein Bedeutendes. Hier gab es schon neben Flüchen Fußtritte und Steinwürfe. (...) Nach zwölfstündigem Marsch zogen wir halbverdurstet in Alexandrowo ein, liefen Spießruten durch die ganze Stadt, wurden beschimpft, mit Steinen beworfen. (...) Am Morgen des 4. September 1939 wurden wir dann in Richtung  Wloclawek in zwei Viehwagen verladen (...), wo wir wieder Spießruten durch die Stadt laufen mußten. (...) Schon in  der Stadt begann neben dem unglaublichsten Beschimpfen das Mißhandeln. Steinwürfe, Kolbenschläge bekam jeder von uns. Mit unglaublicher Roheit wurde Kamerad Alfred Werner aus Groß-Sanskau zerschlagen, nach ihm kam ich an die Reihe. Eine nach meiner Erinnerung in Briefträgeruniform gekleidete Bestie schlug mir ins rechte Auge, man erzählte mir später, er soll mit einem Hammer geschlagen haben. Dies war das Signal für die übrigen, nun ihrerseits mit Kolben auf mich einzuschlagen. Ins Gesicht, auf den Kopf traf man mich, ich brach auf der anderen Seite  der Chaussee bewußtlos zusammen, wälzte mich auf der Straße, wurde durch rohe Stöße mit Gewehrläufen in Bauch, Brust und Rücken zum Bewußtsein gebracht und mit repetiertem Gewehr bedroht, erschossen zu werden, falls ich nicht sofort weiterlief. Der Selbsterhaltungstrieb gab mir die Kraft, aufzuspringen, ich ging wieder in Reih und Glied und  merkte nun, daß mein Gesicht, mein Hemd, mein Anzug von Blut überlaufen war, daß das linke Auge gänzlich zugeschwollen war, und daß ich keine Sehkraft mehr darauf hatte. Das rechte Auge war auch halb zugeschlagen, die Sehkraft herabgesetzt. In diesem Zustand mußte ich noch weitere 30 Kilometer marschieren. (...) Alle diese Wunden werden heilen, aber bluten wird stets unser armes Herz über den Verlust unserer lieben, erschlagenen und erschossenen Kameraden auf diesem Höllenmarsch von Wloclawek.

Mindestens fünf Männer der 43 dieses Zuges sind dann erschlagen oder erschossen worden. Aber das reichte nicht. In der Zuckerfabrik Chodzen, wo mehrere solcher deutscher Verschlepptenzüge gesammelt wurden, ging es weiter:

In diesem Moment schlug die vertierte Bande mit Gewehrkolben auf uns arme, wehrlose Menschen ein. Ein entsetzliches Geschrei, ein einziges Stöhnen war zu hören. Wir lagen zusammengeschlagen am Boden. Als wir allmählich zu uns kamen, merkten wir, daß alle am Leben waren. (...) Leidensgenossen aus den Kreisen Graudenz, Strasburg, Hohensalza und aus anderen Kreisen konnten wir begrüßen. Schätzungsweise lagen in diesem Schuppen 800 Mann, Männer und Frauen. (...) In aller  Frühe des 7. September mußten wir dann in fünf Kolonnen zu je 800 Mann antreten und wurden über Chodecz nach Kutno weitergetrieben.

Dabei wurden alle erschossen, die nicht weiter gehen konnten. Hinter Lowitsch wurden die Verschlepptenzüge dann von der deutschen Wehrmacht eingeholt und befreit. Der Historiker Hugo Rasmus zählt - aufgrund der Vorarbeiten von Oberstudienrat Dr. August Müller (1895-1989) (Am) - in seinem Buch 43 Deutsche des Landkreises Kulm namentlich auf, die im Zuge dieser September-Ereignisse ermordet wurden (2).

Herbst 1939 - Der deutsche "Selbstschutz" unternimmt Strafaktionen und Hinrichtungen

Wie ging es weiter (2, S. 283):

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 1939 setzte das II. deutsche Korps südwestlich Kulm bei Tolpolno am westlichen Weichselufer über den Strom und nahm die Masse des Kreisgebietes Kulm mit der Kreisstadt in Besitz. 

Die ansässige deutsche Bevölkerung hatte die Hölle durchlebt und brauchte Tage, Wochen und Monate, um das Geschehene zu verarbeiten. Familien mußten sich erst wieder finden - und oftmals blieben Angehörige vermißt. Auf der anderen Seite gab es die große Freude und Erleichterung darüber, nun zum Deutschen Reich zu gehören. Die vielen Ermordungen von Deutschen riefen nun deutsche Standgerichte hervor, die insbesondere von Seiten des "Deutschen Selbstschutzes" betrieben wurden. Dieser erschoß drei polnische Männer in den Wäldern bei Raciniewo in der Gemeinde Unislaw (8, S. 221). Männer polnischer Volkszugehörigkeit aus Unislaw waren auch unter 220 Männern, die in Plutowo und unter 400, die in Male Czyste erschossen wurden (8, S. 221). Ob es auch in Unislaw zu Aussiedlungen von Polen kam und zur Ansiedlung von deutschen Rücksiedlern (aus dem Baltikum oder aus Wolhynien oder anderwärts) muß einstweilen dahin stehen. Im Film heißt es (39:30):

Hanno Henatsch und sein Freund Erich Abramowski machen Abitur. Und sie müssen bald danach als deutsche Soldaten in den Krieg. Über hundert Jungen aus der Goethe-Schule werden nicht zurückkehren.

1942 wurde Unislaw offiziell in Kulmisch Wenzlau umbenannt (9).

Abb. 3: General Otto-Joachim Lüdecke, Mai 1944, rückseitig beschriftet mit "Mein Patient General Lüdecke in Agram im Mai 1944" - Lüdecke sollte 1945 zum Festungskommandanten von Thorn ernannt werden

1943 entstand noch einmal ein Farbfilm über die landschaftlichen und kulturellen Schönheiten des Weichsellandes. Es ist ein Film voller Ruhe und Gelassenheit. In ihm wird auch die Stadt Kulm an der Weichsel gezeigt.

1943/44 - Letzte Filmaufnahmen des Weichsellandes aus deutscher Zeit

Während des Zweiten Weltkrieges leisteten in der Kunsthonigfabrik, bzw. Zuckerfabrik von Unislaw (bzw. Kulmisch Wenzlau) Polen aus Kulm Zwangsarbeit (10, 11). Im August 1944 reisten deutsche Studenten der Universität Danzig zum Stellungsbau ins Weichselland und dabei entstanden private Filmaufnahmen (Kronberg):

Private Aufnahmen gefilmt von Werner Kronenberg, damals Student an der Technischen Hochschule in Danzig, als "studentischer" Teilzeitsoldat eingesetzt in Frankreich, auf dem Balkan und bei der Invasion in die UdSSR. Im August 1944 werden Studenten aus Danzig zu Schanzarbeiten nach Westpreußen beordert. Kulm an der Weichsel, Weiterfahrt mit dem Autobus nach Marienwerder, Schloßbesichtigung kurz, Marienburg: Die Burg, Bahnhof und Ort Gartsch, Bahnsteig, Wartende, von dort Spaziergang in Umgebung, Wiesen Felder, junge Frauen als Begleitung, Spaziergang Fortsetzung, Zugfahrt.
Insert: Der Feind bedroht die deutschen Grenzen von Osten, Schanzarbeiten der Studenten der Technischen Hochschule Danzig in Gollub an der Drewens, 9. August 1944, Abfahrt in Danzig, Zug über Graudenz, Marienburg nach Gollup, männliche und weibliche Studierende mit Gepäck, Burg, Ortsname Elgers, gemeinsames Kartoffelschälen im Freien, an der Drewenz, Idylle, Küken, Kühe auf der Weide, Leibisch, Schule Kroppen, Schanzarbeiten mit Schaufel und Hacke, Ausheben Schützengräben, Erklärung im Film: Wie ein Graben entsteht: Systhematisch gefilmt. Zug zurück nach Danzig.
Abb. 4: Die Angriffsspitzen der Roten Armee erreichen die Weichsel bei Thorn und Kulm, um den 23. Januar 1945 (aus: Schäufler)

Am 12. Januar 1945 begann der Großangriff der Russen auf den Weichselbogen (Wiki) und auf Ostpreußen.

12. Januar 1945 - Die Rote Armee tritt an zum Großangriff auf Europa 

Am selben Tag waren die Henatsch's noch bei der großen Hasenjagd auf dem Gut der Familie Abramowski. Über die Gefahr, daß sie Russen angreifen könnten, sprach niemand (Film 40:40). 

Die deutschen Behörden in Ost- und Westpreußen gaben viel zu spät die Befehle zum Räumen und zum Trecken nach Westen. Wer vorher zu fliehen versuchte, wurde oft schwer bestraft. 

Als der Treckbefehl schließlich kam, konnten sich viele Deutsche nicht zur Flucht entschließen.

21. Januar 1945 - Thorn und Graudenz werden zur Festung erklärt

Am 21. Januar 1945 durchbrachen die Russen den äußeren, nur schwach besetzten Sicherungsring von Thorn, sowie die so gut wie gar nicht besetzte Drewenzstellung nordöstlich von Thorn (Lüdecke). Thorn liegt auf dem Nordufer der Weichsel, knapp 30 Kilometer südlich von Unislaw. Adolf Hitler befahl die Ablösung des Festungskommandanten von Thorn. Sein Nachfolger, der General Otto-Joachim Lüdecke (1894-1971) (Wiki), der 1943 das Ritterkreuz erhalten hatte, erhielt die Anweisung (Lüdecke):

ich solle umgehend den Festungskommandanten ablösen und in Thorn die Lage wieder herstellen, Thorn sei ein ganz besonders wichtiger Eckpfeiler und müsse unter allen Umständen bis zum letzten Mann gehalten werden.
Lüdecke berichtet weiter:
Ich begab mich sofort von Danzig im PKW nach Thorn. Von Marienburg ab über Graudenz - Culmsee waren die Strassen völlig verstopft von zurückflutenden Trecks, die die Weichsel hinter sich zu bringen bestrebt waren.
Fabrikdirektor Wilhelm Henatsch, der Vater des damals 21-jährigen Hanno Henatsch in Unislaw, konnte sich in diesen Tagen nicht zum Trecken entschließen (5, S. 177):
Es dauert etwa eine Stunde, bis Hanno Henatsch das Szenario vor unseren Augen ausgebreitet hat: eine Situation auf Leben und Tod, in der er, der einunzwanzigjährige Hanno, seinem Vater Contra gibt: "Das ist unser Todesurteil!" Noch heute muß er ....
Und über den weiteren Verlauf der Ereignisse (5, S. 178):
Jetzt ist es Hanno Henatsch, der drängt und den weinenden Freund zur Umkehr bewegt. "Jemandem in einer Grenzsituation einen Rat geben, das darf man nicht. Da spielen Leute Schicksal. Das darf man nicht!" (...) Für Unislaw hatten die Behörden nach langem Zögern Treckbefehl erteilt, und dagegen setzte er einen Gegentreckbefehl. Allgemeine Verwirrung? Der Vater verleugnete offensichtlich die Wirklichkeit. Die Ehefrau, zwei Töchter und zwei Söhne waren noch in Unislaw, es ging nicht nur um ... Über sechzig Jahre, sagt Hanno Henatsch, quälte er sich damit herum. Und er werde diese Frage mit ins Grab nehmen. Was mag seinen damals fünfzigjährigen Vater bewegt haben? Heimatliebe? Woanders zu leben, hat er sich vermutlich nicht vorstellen können. Heldentum? Wollte er diesmal nicht "feige ...
Warum sich Hanno Henatsch bis zu seinem Lebensende mit dieser Frage herumquält, wird verständlich, wenn man von den Folgeereignissen erfährt. Im Film sagt er (42:00):
Meine Mutter sagte: Kannst du nicht die Schwester noch mitnehmen auf dem Motorrad?

Da er leicht verletzt war, wollte er das auf den vereisten Straßen in der Kälte nicht riskieren.

Abb. 5: Der Ausbruch der deutschen Festungsbesatzung aus Thorn, 5. Februar 1945 (aus Schäufler)

Lüdecke berichtet weiter:

Es fehlte überall an Straßenkommandanten, die mit ihren Organen die Verstopfungen zu entwirren in der Lage gewesen wären. Auf diese Weise kam ich erst am 22.1. gegen 23 Uhr in Thorn an und übernahm noch in der Nacht den Befehl.
Lüdecke:
Von den zugesagten 2 weiteren Divisionen meldete sich im Verlauf des 23.1. eine stark angeschlagene Division - 7l. (?) Division unter Führung des Generalmajors Schlieper - die aus der Kampfgegend von Warschau kam und deren Nachhuten in Fühlung mit den nachdrängenden Russen standen.
Lüdecke:
Die Angriffe der Russen auf Thorn waren (anfangs) nicht als ernst zu bezeichnen. Er stieß ohne Rücksicht auf diesen "Eckpfeiler" südlich und nördlich durch. Südlich auf Bromberg und Posen - vor Bromberg stand er am 23.1., vor Posen am 24.1. - nördlich auf Kulm und Graudenz. Er überschritt die Weichsel südlich Kulm bei Topolno meines Wissens am 25.1.
Topolno liegt auf der westlichen Weichselseite gegenüber von Kokocko. Letzteres liegt zehn Kilometer nördlich von Unislaw. Lüdecke weiter:
Nakel und Bromberg fielen am 23.1. in seine Hand. Die im Ausbau befindliche Netzestellung war nicht besetzt, abgesehen von schwachen Sicherungen, die an den Hauptübergängen behelfsmässig zusammengezogen waren. Bromberg selbst wurde verteidigt und umkämpft, ebenso Fordon, wie engere Umgebung der Weichselbrücke. Beide wichtigen Punkte wurden aber vom Russen von Westen umgangen, der von der Netze aus in nördlicher Richtung auf die Ostsee vorstieß mit dem Ziel, die in Ost- und Westpreußen befindlichen Kräfte einzukesseln und ihnen ein zweites Kurland zu bereiten.
Am 23. Januar stießen die Russen auch an Graudenz, Marienwerder und der Marienburg vorbei bis nach Elbing an der Ostsee vor. Lüdecke weiter:
Am 25.1. hatte sich der russische Belagerungsring um Thorn geschlossen.
Dies war auch der Tag, an dem die Russen Unislaw besetzten. Nach dem Einbruch der Russen in den Ort Unislaw am 25. Januar 1945 wurden die Dorfbewohner in einer Baracke der Zuckerfabrik zusammen getrieben. Die Stadt Kulm ist am 27. Januar 1945 von der Roten Armee eingenommen worden. Der damals 15-jährige J. Henatsch berichtet über seinen Vater, sich selbst und seine damals 19-jährige Schwester A. Henatsch (3, S. 3):
Am 25. Januar 1945 brachen die Russen in mein Heimatdorf ein. Sie belegten unser Haus und begannen bald mit ihren Vernehmungen. Mein Vater wurde zuerst abgeführt; am 29. Januar abends erschienen vier Soldaten, die meine Schwester A. und eine Stunde später zwei Soldaten, die mich in die Gefangenschaft brachten. Wir kamen in ein Haus im Dorf, in dem schon eine Anzahl Deutsche, eingedeutschte Polen und Nationalpolen saßen.
Von Elisabeth Henatsch, der Mutter von Hanno Henatsch, sowie von ihrem Sohn J. Henatsch liegen Erlebnisberichte vor, von ersterer (6):
Im polnischen Durchgangslager Kulm und bei der Zwangsarbeit: Ein amtlich beglaubigter, sechsseitiger maschinenschriftlicher Bericht von Dr. Elisabeth Henatsch aus Unislaw/Kr. Kulm vom März 1946.
Dieser Bericht ist offensichtlich identisch mit einem entsprechenden - allerdings anonymisierten - in der "Dokumentation der Vertreibung" (3, S. 501-506). (Anonymisiert sicherlich, weil sich noch Familienangehörige in sowjetischen Arbeitslagern befanden.) Elisabeth Henatsch, die Mutter von J. und A. Henatsch, berichtet (3, S. 501):
Die Russen (...) nahmen in den ersten Tagen eine große Anzahl Männer und Frauen (Deutsche, eingedeutschte Polen und Nationalpolen) gefangen und führten sie am 1. Februar 1945 nach Rußland ab.
In einer Anmerkung wird dazu zusammenfassend berichtet (3, S. 501):
Im Zuge dieser Zwangsdeportation wurde auch der 15jährige Sohn der Verfasserin nach Rußland verschleppt, im Herbst 1945 schwerkrank entlassen, und ihre 19jährige Tochter, die im Sommer 1946 in einem russischen Zwangsarbeitslager starb. - Der Ehemann der Verfasserin, nach dem Russeneinbruch in Zivilgefangenschaft abgeführt, wurde vor dem Abtransport bei einem Fluchtversuch erschossen.

Dieses Geschehen bildet also den Hintergrund dafür, daß Hanno Henatsch, ein weiterer Sohn von Elisabeth Henatsch, sich bis an sein Lebensende mit der Frage herum schlug, warum sein Vater den Gegentreckbefehl gegeben hatte. - Die in Unislaw zurück gebliebenen Dorfbewohner erlebten nun die sich noch tagelang hinziehenden Kämpfe um den Ort (3, S. 506), die sich aus dem Ausbruchversuch der Festungsbesatzung Thorn entlang des Ostufers der Weichsel ergab.

2. Februar 1945 - Ausbruch der Deutschen aus Thorn Richtung Kulm

Lüdecke berichtet darüber:

In der Nacht vom 31.l./l.2. ging ein Funkbefehl des O.K.H. in Thorn ein, etwa folgenden Inhalts: "Operative Lage erfordert sofortigen Durchbruch. Erreichen der eigenen Linien Waldungen nördlich Krone/Brahe. Eile geboten. Absichten unter Mitnahme deutscher Zivilbevölkerung und Verwundeter sowie möglichen Zeitpunkt des Antretens funken."
Krone/Brahe heißt heute Wałcz. Der Ausbruchversuch war folgendermaßen geplant (Lüdecke):
Die Absicht war, auf kürzestem Wege nördlich Fordon die Weichsel zu überschreiten und das Ziel nördlich Krone zu erreichen. (...) Starker Frost und hohe Schneelage erschwerten das Unternehmen erheblich.

Fordon ist ein Vorort von Bromberg und liegt 20 Kilometer südwestlich von Unislaw auf dem Westufer der Weichsel. Zu gleicher Zeit wurde aber Graudenz, nördlich von Kulm gelegen, noch bis zum 6. März 1945 verteidigt (Wiki) (darüber berichtet Lew Kopelew in seinen Erinnerungen). Über den weiteren Verlauf ist berichtet worden anhand des Berichtes von Lüdecke (Thorwald, S. 266):

Am 2. Februar trat General Lüdecke aus Thorn heraus zum Durchbruch nach Westen an. Er hatte drei Angriffsgruppen formiert. Bei der mittleren Angriffsgruppe befanden sich die Zivilbevölkerung und Verwundete. Es lag hoher Schnee. Es herrschte starker Frost. (...) Lüdeckes Kolonnen kämpften sich bis zum Abend bis zum Raum zehn Kilometer östlich Fordon vor. (...) Jetzt sollte Lüdecke nach Norden abdrehen, die Weichsel südlich Kulm überschreiten und die Linien der 2. Armee bei Schwetz erreichen. Am 5. Februar gelang es einzelnen Teilen, das Eis der Weichsel südlich von Kulm zu überqueren.

Kulm liegt 17 Kilometer nördlich von Unislaw. Diese Ausbruchkämpfe spielten sich also in der Weichselniederung westlich von Unislaw ab. Über dieselben Vorgänge gibt es auch einen Bericht aus polnischer Sicht, von Seiten eines Stefaniak, der damals in Kulm lebte:

Mitte Februar (? gemeint ist wohl eher: Anfang Februar) versuchten Gruppen versprengter Wehrmachtssoldaten aus dem Raum Thorn, bei Kulm über die Weichsel zu setzen und sich weiter zur noch von den Deutschen kontrollierten Ostseeküste bei Danzig durchzuschlagen. Eine Sowjetoffizierin im Rang eines Hauptmanns, die das südlich der Altstadt von Kulm gelegene und mit verletzten Rotarmisten voll belegte Krankenhaus leitete, organisierte die Verteidigungsmaßnahmen. Stefaniak nahm in der Nähe des Krankenhauses und an der ul. Toruńska an dem vierstündigen Feuergefecht mit den deutschen Soldaten teil, die schließlich abgewehrt wurden und sich einen Weg zur Weichsel abseits der Stadt suchen mußten. Der Autor beobachtete, wie kleine und größere Wehrmachtseinheiten versuchten, südlich von Kulm die zugefrorene Weichsel in Richtung Gruczno zu überqueren. Die sowjetische Artillerie beschoß stundenlang die deutschen Soldaten vom hoch über dem Weichseltal gelegenen Kasernengelände in Kulm aus und zwang diese zu einer verzweifelten Flucht. Auch in den nächsten Tagen wurden noch Gruppen deutscher Soldaten aufgegriffen, die aus dem belagerten Graudenz entkommen waren.
Weiter (Thorwald):
Am 7. Februar erreichten etwa 19.000 von den 32.000 Soldaten und Zivilisten, die aus Thorn ausgebrochen waren, die nur noch mit Mühe gehaltene Front der 2. Armee bei Schwetz.

Viele deutsche Soldaten gerieten also in Gefangenschaft. Frau Mollzahn aus Unislaw war nach dem Ende der Kämpfe wieder in ihre Wohnung dicht neben der Zuckerfabrik zurückgekehrt. Sie berichtet davon, daß in dieser Zuckerfabrik hunderte von deutschen Kriegsgefangenen gesammelt und von dort weiter transportiert wurden.

Februar 1945 - Aufräumarbeiten in Unislaw

Bei der Schilderung der weiteren Ereignisse über das Schicksal der deutschen Bewohner von Unislaw decken sich der Bericht von Elisabeth Henatsch und Annemarie Mollzahn, das heißt, alle verbliebenen deutschen Einwohner des Ortes - 150 bis 200 Frauen, alte Männer und Kinder - haben im Frühjahr 1945 ähnliches erlebt, nämlich Mitte März ihre gemeinsame Verschleppung nach Thorn und dann einen Leidensmarsch von dort zurück nach Unislaw. Mitte März wurden die Deutschen des Ortes, in der Fabrik zusammen getrieben. Elisabeth Henatsch berichtet, daß sie zunächst in den Baracken der Zuckerfabrik lebten (3),

wo sie im April alle in polnische Gefangenschaft überführt wurden, das heißt, ab Ostern 1945 kamen alle Deutschen ausnahmslos in ein Lager, das der polnischen Miliz unterstellt war. Sie mußten vom Lager aus Zwangsarbeit verrichten, die zunächst in Aufräumungsarbeiten bestand. Das Dorf und die Weichselniederung besonders waren durch Russeneinbruch und Krieg verwüstet. Es mußten Tote geborgen, Pferdeleichen begraben, Munition und Kriegsgerät aller Art fortgeschafft, Straßen und Wege freigelegt und die Häuser gesäubert werden. Das geschah anfangs unter Aufsicht der Russen, später unter polnischer Miliz. (...) Das Barackenleben wurde dadurch besonders unerträglich, ja gefährlich, da allnächtlich russische Soldaten zum Plündern und Vergewaltigen der Frauen und Mädchen einbrachen. Wir erlebten Szenen der Hölle. Die polnische Miliz konnte oder wollte uns nicht schützen. (...) Mitte April kam ein Befehl zur Sammlung aller Gefangenen ringsum zum Zwecke des Abtransportes. Wohin? Keiner wollte es uns sagen.

Die Internierten wurden mit dem Zug nach Thorn transportiert, wobei schon auf dem Transport alte Menschen und Kranke starben. 

Mitte April - Wegführung der Deutschen aus Unislaw nach Thorn und Rückmarsch

In Thorn wurden sie in der Ruine eines Krankenhauses eingepfercht. Auch dort kam es wieder zu Vergewaltigungen wie Frau Mollzahn berichtet (3):

So hausten wir drei Tage und Nächte, es war ein Geschrei Tag und Nacht. Frauen und Mädchen wurden von den Russen rausgeholt und vergewaltigt. Da lernte ich die Hunde erst kennen, da ich selbst die Tage viel durchgemacht habe.
Sie mußten dann wieder zu Fuß die 30 Kilometer von Thorn nach Unislaw zurückkehren. Frau Mollzahn (3):
Der Marsch dauerte drei Tage, weil wir schon alle müde und heruntergekommen waren.
Frau Henatsch (3):
Also setzte sich unser trauriger Zug in Bewegung: er bestand vor allem aus Müttern mit Kindern, eine Reihe Säuglinge waren dabei. (...) Es regnete, schneite und stürmte - Aprilwetter -, Menschen und Gepäck waren gänzlich durchnäßt, doch waren das Glück und die Dankbarkeit, der Verschleppung nach Rußland entkommen zu sein, so groß, daß einer dem anderne durch die langen Reihen des Zuges zuflüsterte: "Der Herr hat's nicht gewollt."
Fast alle Kinder wurden durch die Kälte und Feuchtigkeit während dieses Marsches krank, viele von ihnen sollten in den nächsten Wochen daran sterben. Frau Mollzahn konnte auf diesem Weg noch einmal ihren väterlichen Hof in Luben besuchen, wo sie durchkamen. Dort lebten aber schon Polen. Frau Mollzahn weiter (3):
Am nächsten Tag in Unislaw wieder angelangt wurden wir in den Kindergarten getrieben. Dann gingen wir erstmal was zu essen betteln. Wer aus Unislaw war, bekam auch was. 
Frau Henatsch (3):
In unser Dorf zurückgekehrt, wurden wir alles andere als willkommen aufgenommen. (...) Man übergab uns einem Durchgangslager in Kulm.

Schließlich wurden die Deutschen aus Unislaw nach Kulm verfrachtet, wo im Gefängnishof hunderte von Deutschen gesammelt wurden.

April 1945 - Die Deutschen aus Unislaw im Gefängnishof in Kulm

Schon hier wurden die Kinder von ihren Müttern und Familien kurzzeitig getrennt, auch die Säuglinge. Die Menschen wurden von der polnischen Geheimpolizei verhört wie Frau Henatsch berichtet (3):

Diese Zeit in Kulm gehört zu meinen schrecklichsten Erinnerungen. (...) Im "Ressort" (der Geheimpolizei) saßen junge Menschen im Alter von 20 bis 25 Jahren etwa. (...) Als ich dort das Zimmer betrat, noch bevor ich nach meinen Personalien gefragt wurde, versetzte mir ein junger Mann ein paar Schläge ins Gesicht, ein anderer traf mich von hinten, der Gummiknüppel flog an meinen Kopf, ich wurde am Hals gepackt, über einen Stuhl gebeugt zum Durchprügeln. (...) Ich betone, es handelte sich um Frauen, von denen man nicht wußte, wer sie waren, wie sie hießen. (...) Wer diese furchtbare Untersuchung hinter sich hatte, kam zur Zwangsarbeit. Draußen auf dem Gefängnishof warteten schon polnische Bauern und polnische landwirtschaftliche Beamte, die uns zur Landarbeit haben wollten. Es war wie auf einem Sklavenmarkt.

Frauen wie Frau Mollzahn, die drei Kinder hatten, wollte auf dem "Sklavenmarkt" niemand haben. 

Verteilung der Deutschen auf die umliegenden Güter zur Zwangsarbeit

Sie gelangte dann auf das Gut Napolle bei Baiersee (Wiki), sieben Kilometer nordöstlich von Unislaw (3):

Der Gutsverwalter, ein eingedeutschter Pole, früher Stellvertreter des Amtskommissars in Unislaw, nahm uns am anderen Morgen in Empfang. Da er uns ja bekannt war, zwangen wir ihn gleich, für Essen zu sorgen. (...) Das Land war zum größten Teil parzelliert, das Vieh hatte der Russe alles auf das Gut Schönborn bei Unislaw getrieben.
Frau Henatsch berichtet (3):
Ich kam mit sechs Frauen und einem Mann auf das Gut Wichorze von Freunden - von Loga, die der Krieg verschlungen hatte - zur Arbeit. Da von Loga seiner Zeit die Polen gut behandelt hatte, hatten wir es auch nicht schlecht.

Aus den Berichten beider Frauen schimmert durch, daß das Verhältnis der Deutschen und Polen vor Ort viele Jahrzehnte lang ein gutes war, sprich, daß erst die Verhetzung in die Volksteile eher von außen hinein getragen werden mußte, damit so schlimme Ereignisse statthaben konnten wie zsichen 1939 und 1949.

Anfang Juni 1945 wurde Frau Mollzahn dann mit ihren drei Kindern über Kulm nach dem Gut Wrotzlawken (Wroclawki, 1942-1945 Atzmannsdorf) (Wiki) getrieben. Dort arbeitete sie bis zu ihrer Ausweisung im Mai 1949. Rittergutsbesitzer war im 19. Jahrhundert eine Familie Petersen. Das Gutsdorf liegt 18 Kilometer nordöstlich von Unislaw. - Frau Henatsch kam ebenfalls nach wenigen Wochen nach Kulm zurück, mußte aber daselbst im Konzentrationslager verbleiben, das in Baracken des vormaligen Reichsarbeitsdienstes eingerichtet worden war (3):

Im Lager wurden wir schrecklich angebrüllt. Die Bezeichnung für Frauen und Mädchen war "Hitlerhure".
Dort starben die alten Menschen zurerst an Hunger. Frau Henatsch kam dann doch wieder zu einem polnischen Bauern, der aber sehr deutschfeindlich war, und bei dem sie, obwohl ihr die Landarbeit ganz ungewohnt war, sehr schwer arbeiten mußte. Im November kam sie nach Kulm und sollte von dort nach Potulice, in das Konzentrationslager für Deutsche in Westpreußen verbracht werden, von dem man nur das Schlimmste gehört hatte (3):
Unser alter polnischer Dorfpfarrer, den mein Mann 1939 aus dem Gefängnis befreut und vor dem Selbstschutz bewahrt hatte, hatte einen Antrag für mich eingereicht auf Ausreise ins Reich zu meinen Kindern. Seine Verwandten nahmen mich gütevoll auf. Ich wurde vier Wochen im polnischen Pfarrhaus versteckt gehalten bei bester Behandlung mit großer Noblesse, bis dieser Antrag genehmigt undich offizeill aus polnischer Gefangenschaft entlassen wurde: das war am 23. Dezember 1945.
In Küstrin wurden alle ausreisenden Deutschen schlimm zugerichtet und ausgeplündert (3):
Von Berlin bin ich mit einem Flüchtlingstransport im Januar 1946 nach Bayern gekommen, wo ich meine drei jüngsten Kindern nach einem Jahr der Ungewißheit und des Vermissens fand. Meine drei ältesten Kinder befinden sich noch in russischer Gefangenschaft,
so schrieb Elisabeth Henatsch 1946. Ihr deportierter Sohn J. H. berichtet von vielen schlimmen Erlebnissen während seiner Zwangsarbeit in Rußland (3, S. 3ff):
Fast zwei Drittel von 53 aus unserer Gemeinde Verschleppten sind gestorben. Sehr hoch war die Sterblichkeit der Verschleppten aus Kulmsee. Von 80 Personen blieben weniger als 10 am Leben.
Es mußte gefälltes Holz transportiert werden:
Ich war oft krank und elend, magerter sehr ab, litt an geschwollenen Beinen und war zuletzt so wenig arbeitsfähig, daß ich (...) am 26. August entlassen wurde, weil ich über drei Monate im Lazarett hatte zubringen müssen. Nach 18tägiger Bahnfahrt wurden wir in Frankfurt/Oder endgültig entlassen. Meine Schwester A. mußte ich im Lager zurücklassen. Sie hatte dort eine Stelle als Waschfrau inne. (...) Ich war im Lager fast täglich mit ihr zusammen. Sie überstand die Arbeit besser als ich. Da sie nicht erkrankte, kam eine Entlassung für sie nicht in Frage. Ich warte jetzt auf sie und hoffe, daß ich auch recht bald einmal wiederkommen wird.

In der Anmerkung dazu wird aber festgehalten, daß sie noch im selben Sommer in Rußland gestorben ist.

1946 bis 1949 - Die Kinder der Deutschen kamen ins Kinderheim

Frau Mollzahn mußte noch drei weitere Jahre auf Gut Wrotzlawken arbeiten. Dort wurden ihr  1946 sogar zwangsweise ihre drei - bei der Arbeit auf dem Gut störenden - Kinder weggenommen und in ein polnisches Kinderheim gegeben. Die Kinder waren zwischen vier und zehn Jahre alt. Erst anläßlich ihrer schließlich erfolgten Ausweisung im Jahr 1949 kam sie wieder mit ihren Kindern zusammen. Diese hatten sich bis dahin ganz von ihr entfremdet, da sie nur polnisch reden und schreiben durften.

Nicht wahr? Von solchen Schicksalen wie sie Millionen Deutsche erlebt haben, wird in öffentlichen Erörterungen wenig Aufhebens gemacht, oft sogar wenig Aufhebens in familiären Gesprächen. Dies wird von Seiten der Psychologen als einer der Hauptgründe dafür genannt, das Kriegstraumatisierungen von Kriegskindern an Kriegsenkel und Kriegsurenkel weiter gegeben werden, ohne daß sie jemals gründlicher aufgearbeitet worden wären.

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  1. Bernhart Jähnig, Peter Letkemann (Hrsg.): 750 Jahre Kulm und Marienwerder. In: Beiträge zur Geschichte Westpreußens, Ausgabe 8, hrsg. v. Copernicus-Vereinigung zur Pflege der Heimatkunde und Geschichte Westpreußens. Verlag Nicolaus-Copernicus-Verl., 1983, https://books.google.de/books?id=eDlpAAAAMAAJ (Suchwort Unislav) 
  2. Rasmus, Hugo: Pommerellen-Westpreußen 1919-1939. Herbig München 1989
  3. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 2. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1984
  4. Lachauer, Ulla: Westpreußen - Als der Osten noch Heimat war, WDR-Dokumentation 2009,  https://youtu.be/z2bckDEkrow, oder https://youtu.be/9ShdpRrKUcY.
  5. Włodzimierz Borodziej: Als der Osten noch Heimat war. Was vor der Vertreibung geschah: Pommern, Schlesien, Westpreussen : das Buch zur WDR-Fernsehserie. Rowohlt, 2009 (316 S.) (GB) 
  6. Jürgen W. Schmidt: Als die Heimat zur Fremde wurde ... - Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Westpreußen. Aufsätze und Augenzeugenberichte. Verlag Dr. Köster, 2011 (466 S.) (GB)
  7. Höllenmarsch der Volksdeutschen in Polen. Nach ärztlichen Dokumenten zusammengestellt  von Dr. Hans Hartmann.    Verlag Neues Volk, Berlin, Wien  1940; The Scriptorium, digitalisierter Nachdruck 2014; Druckversion gesetzt 2016, https://archive.org/stream/SC079 HoellenmarschDerVolksdeutschenInPolen/SC%20079%20 Hoellenmarsch%20der%20Volksdeu tschen%20in%20Polen_djvu.txt
  8. Christian Jansen, Arno Weckbecker: Der "Volksdeutsche Selbstschutz" in Polen 1939/1940. https://books.google.de/books?id=rdTnBQAAQBAJ&pg=PT162 (Suchwort: Unislaw)
  9. Amtsbezirk Kulmisch Wenzlau. In: Rolf Jehke (Herdecke): Territoriale Veränderungen in Deutschland und deutsch verwalteten Gebieten 1874-1945. Zuletzt geändert am 19.5.2005, http://www.territorial.de/dawp/kulm/klmwenzl.htm
  10. Kulm. In: Deutsches Weichselland. Ein Farbfilm von Curt A. Engel, 1943/1960, https://youtu.be/37EFyx0DyEE, ab Minute 4
  11. Kronberg, Werner: Studenten in Westpreußen bei Schanzarbeiten und Stadtbesichtigungen im August 1944, private Filmaufnahmen, https://youtu.be/RGX4-kWyzqg
  12. Generalleutnant a. D. Otto Lüdecke: Die Belagerung und der Ausbruch aus der Festung Thorn Bundesarchiv, Ost-Dok 2, Paganierung 50-56, http://www.thorn-wpr.de/fqODLOAT.htm
  13. Thorwald, Jürgen (d.i. Heinz Bongartz): Es begann an der Weichsel. Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Steingrüben, Stuttgart 1949
  14. David Oels: Schicksal, Schuld und Gräueltaten - Jürgen Thorwalds ewiger Bestseller "Die große Flucht". In: DIE ZEIT, 22.07.2010 Nr. 30, https://www.zeit.de/2010/30/Geschichte-Thorwalds-Flucht/komplettansicht
  15. Schäufler, Hans: 1945 - Panzer an der Weichsel. Soldaten der letzten Stunde. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1979
  16. Andreas Prause (Chełmno): Internetseite über die Stadt Culm, http://www.chelmno.info/ 
  17. Andreas Prause: NS-Zeit in Chełmno - Kindheitserinnerungen von Eugeniusz Stefaniak Veröffentlicht am 19. Juni 2012 [Erstveröffentlichung 10.11.2008], http://www.chelmno.info/ns-zeit-kindheitserinnerungen-stefaniak/
  18. Unislaw heute, Fotos: https://www.inst4gram.com/tag/unis%C5%82aw
  19. Zuckerfabrik Onislaw.- Kulmischwenzlau, Reg. Bez. Danzig (Kreis Kulm), https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/YZMLNZ6QM7IO7OTMOSWDI27H52KSONE2
  20. Bading, Ingo: Das Verdrängen des Leids - Unserer Großeltern-Generation, 2.7.2019, https://studgenpol.blogspot.com/2019/07/das-verdrangen-des-leids-unserer.html