Freitag, 17. Juni 2022

"... gelangte man an die geliebte Ostsee"

Rowe - Einst
- Ein Ostseebad in Pommern und seine Umgebung

Da sich das einstige, deutsche Fischerdörfchen Rowe in Pommern seit 1945 sehr stark verändert hat (Pr22), macht es Sinn, sich auch das historische Rowe vor 1945 vor Augen zu führen, so wie es Maler wie Max Pechstein (Pr2022) oder der aus Stolp gebürtige Maler Jürgen Wegener (1901-1984) (Wiki) kennen und lieben gelernt haben.

Abb. 1: Jürgen Wegener - Die Lupow-Mündung bei Rowe (Zustand vor 1945)

Es mag ja immerhin auch kunstgeschichtlich von Bedeutung sein, von diesem historischen Zustand des Ostseebades Rowe zu wissen.

Abb. 2: Rowe - Badestrand und Lupowmündung, 1928

Heute ist zum Beispiel die Lupow-Mündung in die Ostsee und der Verlauf der Lupow durch das Dorf hindurch völlig einbetoniert, ebenso das geschaffene Hafenbecken daselbst. All das scheint - den Bildern nach zu schließen - vor 1945 nicht der Fall gewesen zu sein (Abb. 1 bis 5).

Um wie viel schöner muß es also vor 1945 in diesem Ostseebad gewesen sein. Um wie vieles geruhsamer.

Abb. 3: Ostseebad Rowe, Fliegeraufnahme, 1920er oder 1930er Jahre

Wir sehen da Bauernhäuser, zum Teil noch mit Schilf gedeckt, wir sehen Stallgebäude und Scheunen. Wir sehen das sandige Ufer der Lupow. 

All das ist heute völlig umgestaltet. Alle Häuser im Ortskern von Rowe sind heute mehrstöckige Hotels und Ferienanlagen oder flache, ebenerdige Lagerhallen.

Abb. 4: Idyllisches Klein-Rowe, Blick über den Lupow-Fluß

Wie sehr sich heute alles gegenüber dem früheren Zustand verändert hat! Nur die Ostsee spült wie einst und je an den Strand der Küste, nur der Wind weht über die Dünen - wie einst und je.

Abb. 5: Ostseestrand bei Rowe (mit Hakenkreuzfahnen)

In diesen Blogbeitrag wollen wir nach und nach noch Auskünfte über die Geschichte der Umgegend von Rowe einpflegen.

Auf dem Weg von Rowe nach Stolpmünde kommt man über Schönwalde und Wobsde in das Dorf Klein Machim (Wiki), vier Kilometer vom Ostseedörfchen Neustrand (heute "Poddąbie") und vom dortigen Ostseestrand entfernt (Wiki):

Der Wohnplatz Neu Strand ist ein von Friedrich dem Großen gegründetes Kolonisten-Dorf. Der Gründungsurkunde von 1772 zufolge wurden auf dem zum Gut Klein Machmin gehörigen Terrain zwölf Kossäten angesetzt. 

Von Schönwalde aus ist dieses Dörfchen noch heute nur durch einen Sandweg durch den Wald hindurch zu erreichen.

Neu Strand

Über dieses Neu Strand wurde 1936 geschrieben (Ü):

"... Und in all dieser Schönheit findet der Naturfreund ein kleines Dorf, das im Mittelpunkt dieser Gegend liegt: Neu Strand, das rings umgeben ist von großen Wäldern. Steil fällt hier die Küste ab zum Meer. Neu Strand wird wohl den meisten Stolpern nicht unbekannt sein. Frieden Iiegt über dem Dörfchen, aber hart und schwer ist hier die Arbeit."

In solchen Dörfern könnten also auch die Vorfahren in Stolp gerne Urlaub gemacht haben. Wir lesen weiter (Ü):

Das idyllische Fischerdorf Neu Strand war für die Feriengäste der Inbegriff aller Urlaubsfreuden. Der kleine Ort bestand nur aus wenigen Häusern, die alle mit ihren teils rohrgedeckten Dächern an einer Seite der sandigen Dorfstraße Iagen. Lieselotte Albrecht erinnert sich: "Schon einige Wochen, bevor die ersten Feriengäste nach Neu Strand kamen, herrschte in allen Häusern ein emsiges Leben und Treiben. Die Fischer zogen mit ihren Familien in die Sommerhäuser, wo sie dann meistens nur ein Zimmer und die Küche bewohnten. Jeder verfügbare Raum wurde für die Sommergäste freigemacht. Nach dem Umzug ging es an das Großreinemachen. Die Küche wurde geweißt, die Gardinen gewaschen, der Fußboden geschrubbt, und wenn die ersten Gäste kamen, blitzte alles vor Sauberkeit. In der Wahl der Gäste waren die Neu Strander sehr konservativ. Alle hatten jahrelang "ihre" Gäste, und es wäre unvorstellbar gewesen, daß einmal einer seine Wohnung an einen Fremden vermietet hätte, auch wenn dieser ihm einen höheren Mietpreis geboten hätte. Dadurch, daß immer dieselben Leute zu den Fischern kamen, hatte sich zwischen Einheimischen und Gästen eine wahre Freundschaft und tiefe Verbundenheit herausgebildet."

Die letzten deutschen Besitzer des Rittergutes in Klein Machim, vier Kilometer von Neustrand entfernt, waren der im Jahr 1945 68-jährige Rittmeister Dr. Günther von Zitzewitz (1877-1945) (Geni) und seine Frau Helene von Zitzewitz, geb. von der Marwitz (1884-1970).

Klein Machim

Sie hatten zwei zu der Zeit schon verheiratete Kinder, Angelika von Zitzewitz (geb. 1907) und Jürgen von Zitzewitz (1911-1988). Erstere war mit Konrad von Uckermann auf Bedlin verheiratet, letzterer hatte 1938 Alberta von Brandenstein geheiratet. Die Liebe zu ihrer Heimat brachte Helene von Zitewitz nach 1945 folgendermaßen zum Ausdruck (Ü):

"Die Lage von Machmin war berückend schön. Das Gutshaus lag dicht umgeben von großen Rasenflächen mit alten Baumgruppen, in englischem Stil gehalten. Das wellige Terrain ging in 200 Morgen parkartig gehaltenen Wald über, den Wiesen umgaben, auf denen die Rehe ästen und im Herbst die Hirsche schrien ... Durch 4 ½ km Feld- und Waldgelände gelangte man an die geliebte Ostsee. Bis an den Rand der Steilküste reichte der Buchenwald und ohne Dünengelände kletterte man hinab an den sehr breiten schneeweißen Strand, den die Wellen umspülten."

"Aber Grauen sank drüber wie Dünensand ...," so möchte man mit den Worten der Dichterin Ostpreußens, Agnes Miegel, sagen. 

"Grauen sank drüber wie Dünensand ..."

Denn über das Jahr 1945 erfahren wir (Ü):

Anfang Januar 1945 wurden in Klein Machmin erste Räumungsvorbereitungen getroffen. Doch als die Russen kamen, konnten sich nur zehn Bewohner mit dem Schiff über Stolpmünde und Danzig retten. Die Frau des Gutsbesitzers verließ mit ihren Angehörigen Machmin in einem Wehrmachtsauto am 3. März. Günther von Zitzewitz harrte weiter aus.

Und wir lesen weiter (Ü):

Am Tage vor der Besetzung waren sämtliche Straßen verstopft. Die Tracks kamen in den letzen 24 Stunden nur fünf bis sechs Kilometer voran. Die letzten deutschen Soldaten waren Kanoniere der Flak und Angehörige des Volkssturms vom Schießplalz Stolpmünde. "Am frühen Vormittag des 9. März zogen dann die ersten russischen Truppen in östlicher Richtung durch Klein Machmin. Es waren Infanterie und Panzerabwehr. Kämpfe fanden nicht statt . . ." Zu dieser Zeit war das Dorf voller Flüchtlinge. An den folgenden Tagen kam es immer wieder zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Russische Kommandos verschleppten mehrere Dorfbewohner, von denen einige zurückkehrten. Auch Rittergutsbesitzer von Zitzewitz wurde in Stolp im Magazin eingekerkert. Am 26. Mai 1945 ist er im Hospital St. Spiritus gestorben. Die Schule wurde teilweise zerstört. Ende März mußten die Bewohner den Ort verlassen, weil er innerhalb der militärischen Sperrzone an der Ostsee lag. Die Evakuierten zogen zehn Kilometer südwärts und kamen vorübergehend auch nach Stolp, wo sie in die Kasernen an der Gumbiner Chaussee eingewiesen wurden, die auch von Soldaten belegt waren. Im Mai durften alle wieder nach Hause. Die polnische Besetzung begann am 1. August 1945 mit der Einsetzung eines Bürgermeisters, eines polnischen Amtsvorstehers und dem Erscheinen polnischer Miliz. Bis Ende 1945 ließ sich auf jedem Hof eine polnische Familie nieder. "Die Ausplünderung wurde durch die Polen verstärkt fortgesetzt". Druck und Terror im Dorf nahmen seit Ende 1945 immer mehr zu. Im Juni 1946 wurden die ersten Deutschen aus Klein Machmin abtransportiert. Nach der wochenlangen Unterdrückung empfanden die Dorfbewohner die Vertreibung aus ihrer Heimat fast schon als Erlösung. Bis Ende 1946 mußte etwa die Hälfte der Bewohner das Dorf verlassen, unter ihnen auch Bürgermeister Below. Ein Transport ging am 15. Dezember 1946. Im Jahre 1952 gab es in Klein Machmin noch 71 Deutsche. Darunter waren zehn deutsche Familien aus Saleske, die man zwangsumgesiedelt hatte, damit sie das Gut bewirtschafteten. Es gab 1952 eine deutsche Schule, die etwa fünf Jahre bestanden hat. Die Heimatortskartei Pommern ermittelte später 253 Bewohner in der Bundesrepublik Deutschland und 157 in der DDR. Aus Klein Machmin wurde Machowinko. Kriegs- und Vertreibungsverluste: 14 Gefallene, 10 Ziviltote und 24 Vermißte ("ungeklärte Fälle").

Stolpmünde

Nun sei abschließend nur noch ein Foto von Stolpmünde gebracht, auf dem der bescheiden-mondäne Charakter dieser liebenswürdigen Stadt vielleicht am besten zum Ausdruck kommt (Abb. 6).

Abb. 6: Stolpmünde vor 1945 - Bescheiden und mondän zugleich - Nirgendwo "Überladenes", Protziges, Beleidigendes

1945 haben sich auch in Stolpmünde unwahrscheinlich dramatische, unendlich entsetzliche Szenen abgespielt (Ü):

In den letzten Tagen sind aus Stolpmünde noch 18.310 Flüchtlinge, Soldaten und Verwundete herausgekommen, seit dem 15. Januar insgesamt 32.780 Menschen. (...) In panikartiger Flucht verließen 3.000 Flüchtlinge den Ort auf den Ausfallstraßen in Richtung Osten. Ein Fluchtweg führte entlang der Küste nach Schönwalde, der andere über Strickershagen und Weitenhagen nach Gambin. Auch die mit Pferd und Wagen Flüchtenden wurden schon nach Stunden oder Tagen von den schnell vorstoßenden Russen eingeholt. 

Auch zu den Quälereien der zurückgebliebenen Deutschen in Stolpmünde gibt es ausführliche Beschreibungen (Ü):

Kriegs- und Vertreibungsverluste: 123 Gefallene, 58 Ziviltote und 729 Vermißte ("ungeklärte Fälle").

So viel deutsche Vergangenheit in jeder einzelnen Ortschaft Pommerns, in jeder deutschen Familie Pommerns.

Pommern heute - Ein Fahrtbericht

Stolp und Ostseebad Rowe  
- Acht Tage Pommernurlaub, Juni 2022

Samstag, 4. Juni: Fahrt mit dem Auto über Stettin und Stolp zu der gemieteten Ferienwohnung am Ortsrand des Ostseebads Rowe. 

Schon seit Monaten war davon die Rede, das Land der Vorfahren einmal besuchen zu wollen. Endlich die Umsetzung.

Abb. 1: Ostseestrand bei Schönwalde in Pommern - Blick nach Süden, Richtung Stolpmünde (polnisch heißt Schönwalde Dębina)

Der Maler Max Pechstein hat zwischen 1927 und 1945 in Rowe viele Monate malend und wandernd verbracht (Pr2022). Ein Grund für die Wahl dieses Urlaubsortes. Von hier aus kann man den Revekol sehen, einen der höchsten Berge Pommerns. Er findet sich auf vielen Bildern von Max Pechstein. Rowe selbst liegt auch nicht weit von der Stadt Stolp entfernt, in der Vorfahren gelebt haben. 

Rowe

Auf den bedeutenden europäischen Maler Max Pechstein fanden sich im Ortszentrum des heutigen Ostseebades Rowe nirgendwo auffallendere Hinweise. Womöglich müßte man sich dieserhalben noch längere Zeit umsehen.

Rowe als Ortschaft ist häßlich. Bunt zusammen gewürfelte Hotelbauten und ein Jahrmarkts-Rummel als Einkaufsstraße. Nur die bescheidene alte Kirche, gelegen inmitten dieses strukturlosen Durcheinanders vermittelt einen Eindruck von dem Dörfchen in der Zeit vor 1945, das ja Gegenstand zahlreicher berühmter Gemälde von Max Pechstein und anderer Maler ist. 

Im Gegensatz zum Zustand vor 1945 (Pr2022) ist das vormals schöne Flußbett der Lupow innerhalb von Rowe und bei der Mündung ins Meer einbetoniert. Dabei entstand ein kleiner Hafen. Er wirkt aber eher wie der Hinterhof eines herunter gekommenen Industrieunternehmens. Alte Bauernhäuser scheint es Rowe kaum noch zu geben. Das Ortszentrum mit dem Jahrmarkts-Rummel möchte man meiden. Es erinnert in so gut wie nichts mehr an das Rowe aus der Zeit vor 1945. Es war einer der unfreundlichsten Orte der ganzen Reise. 

Der erste Tag brachte eine Wanderung durch den Wald zum Strand, am Strand entlang nach Rowe und durch das Ortszentrum zum wunderschönen, einsam gelegenen Garder See. Von dort dann abends zurück zur Ferienwohnung am südlichen Ende des heutigen Rowe. 

Jahrtausende lang hat sich die Ostseeschiffahrt am weithin sichtbaren Revekol orientiert. Er ragt südlich des Garder See's auf (1). Der Garder See, der für Schiffe von der Ostsee aus über die Lupow zu erreichen war, wurde von diesen gerne bei stärkeren Stürmen aufgesucht. Er galt im Mittelalter als Seeräuber-Versteck.

Der folgende Tag (Sonntag, 5. Juni): Fahrt mit dem Auto durch Rowe über die Brücke auf die andere Seite der Lupow, Wanderung den Strand entlang nach Nordosten. Herrlicher, einsamer Strand. Sonnenbrand vorprogrammiert (Abb. 6). Auf dem Rückweg durch den Wald eine schön angelegte Aussichtsplattform. Von ihr blickt man über den einsamen Garder See. Eine Urlaubsregion, die sehr beliebt ist. Im Wald gibt es viele Fahrradfahrer.

Montag, 6. Juni: Ostseestrand in Schönwalde (Abb. 1), ein Dorf südlich von Rowe. Schönwalde hat - im Gegensatz zu Rowe - viele schöne Ecken, erhaltene, alte Gebäude, aber mitunter sogar schöne, neu errichtete Gebäude. Der Strand ist vom Parkplatz am Ortsrand in nur fünf Minuten zu erreichen. Geprägt ist er von einer eindrucksvollen Steilküste, bewachsen von herrlichem Buchenwald.

Wobesde, Weitenhagen, Stolpmünde

Dienstag, 7. Juni: Fahrt nach Stolpmünde (G-Maps). 

Abb. 2: Kriegerehrenmal in Wobesde in Pommern für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges - Offenbar erst seit wenigen Jahren restauriert und wieder hergestellt

Zu Anfang durchfährt man das Dorf Wobesde (Wiki). In seinen Gebäuden ähnelt es einem ganz normalen deutschen Straßendorf. Es wirkt nur ein wenig mehr herunter gekommen als das heute "im Westen" noch der Fall ist. Da es noch heute so unglaublich wenig in deutscher Sprache in Pommern zu finden gibt, große Überraschung, auf ein wiederhergestelltes Ehrenmal zum Gedenken der Gefallenen des Ersten Weltkrieges aus der Gemeinde Wobesde vor der ebenfalls schön restaurierten Kirche zu stoßen (Abb. 2). Hinter der Kirche ist - unzugänglich - der ausgedehnte, schöne Gustpark gelegen. Er erstreckt sich bis zu einem großen Gutshaus, das sich aber - verfallen und unzugänglich - innerhalb eines eingezäunten Grundstücks befindet. Die Strukturen des Gutshofes und seiner vielen wirtschaftlichen Nebengebäude sind gut zu erkennen.

Bis 1945 war hier die Gutsbesitzersfamilie Kutscher ansässig. Ihrer Familienangehörigen wird im Kirchhof neben der Kirche in neu angebrachten Gedenktafeln gedacht. Ihre Gräber waren also vermutlich zwischenzeitlich zerstört worden. Es ist naheliegend, daß Nachkommen dieser Familie das genannte Kriegerehrenmal und die Kirche haben renovieren lassen.

Ein bedeutenderer Angehöriger dieser Familie war der Oberpräsident von Ostpreußen unter der Regierung von Papen 1932/33 Wilhelm Kutscher (1876-1962) (Wiki). Bei ihm handelte es sich um einen preußischen Beamten, der auch sonst in seinem Leben hohe Ämter inne hatte. 

Ein auffallender Umstand der Dorfgeschichte ist außerdem, daß hier christliche Sekten wie die Mormonen seit 1900 viele Anhänger haben werben können, sogar durch Missionare, die in den 1920er Jahren aus den USA gekommen waren. "Abgelegenes" Pommern? Von wegen.

Abb. 3: Die Kirche von Weitenhagen in Pommern (vier Kilometer östlich von Stolpmünde)

Kurz vor Stolpmünde durchfährt man das schöne Dorf Weitenhagen (Wiki). Auch hier neben einer renovierten Fachwerkkirche (Abb. 3) ein (wieder hergestellter?) deutscher Gedenkstein für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. 

Anrührend an Stolpmünde ist, daß es in seiner Architektur so bescheiden geblieben ist, wie es sich bis 1945 dargeboten hat. Nur als eine leichte "Firnis" ist über alles "das Polnische" gelegt. Leicht kann man sich in das Stolpmünde zurück versetzen in jene Zeit, wie es dort vor 1945 ausgesehen hat. In bei Deutschland verbliebenen Ostseebädern ist das keineswegs mehr so gut möglich wie hier. 

Stolpmünde bietet sich dar als eine sehr eigentümliche Kombination eines kleinen Fischer- und Handelsstädtchens, auch mit Lager-, Speicher- und Fabrikgebäuden einerseits und eines kleinen, mondänen Badeortes mit Strandhotels im Jugenstil der Zeit um 1900. 

Gerne möchte man hier in diese Zeit ruhiger, beschaulicher, unbeschwerter Urlaubsatmosophäre der Zeit vor 1945 hineintauchen. Viel anspruchsloser und bescheidener mutet da alles an. Auch nicht so "überlaufen", so "überdreht" und mit so viel Neubau-"Boom" wie es in den heutigen deutschen Badeorten an der Ostsee (etwa Bansin, Hennigsdorf und so weiter) der Fall ist. Und wie es auch in Rowe - freilich noch in der etwas anderen Form einer Art "Billig-Tourismus" - zu besichtigen ist.

Schönwalde und Neustrand

Mittwoch, 8. Juni: Wieder am Ostseestrand von Schönwalde. Beeindruckend immer wieder, durch den Wald zur Ostsee zu kommen, einmal versperrt durch herrliche Dünen versperrt, einmal direkt über die bewaldete Abbruchkante hinaus blickend.

Donnerstag, 9. Juni: Mit dem Auto auf einem Sandweg im Wald von Schönwalde in Richtung des Dörfchens Neustrand (Ü), dort Auto im Wald stehen gelassen und zum Strand gewandert. Neustrand leider nicht angesehen. Berichte aus der Zeit vor 1945 (Ü) zeigen, wie die Pommern in diesen Dörfern ihren Urlaub verbracht haben (Pr2022).

Groß Garde, Schmolsin, Revekol und Scholpin

Freitag, 10. Juni: Fahrt über Groß Garde (Wiki, Stolp) nach Schmolsin (Wiki). Groß Garde war ursprünglich ein Fischerdorf am Ufer des Garder Sees, herrlich gelegen. 

/ Einfügung 20.2.23: Auf Youtube findet sich eine Dokumentation zu in Pommern verbliebenen Deutschen, wobei auch eine Frau Charlotte Judaschke-Skuriat aus Groß Garde interviewt wird (3; 2'49):

"Nur fünf Familien blieben hier in Garde, Behnke, Kipert, Judaschke, Kretsch und Kowalski." 

Und (3; 5'20): 

"Bis 1945 war es ein ruhiges Dorf. Es waren nur Fischer und Landwirte hier." 

Sie geht von ihrem Haus hinunter zum Garder See und erzählt dort (3; 7'50): 

"Hier war ein großer Platz, das war ein Tanzplatz. Da hat die Jugend abends immer getanzt mit Schifferklavier. Die älteren Menschen haben gesessen und zugeguckt. Es wurde gesungen." 

Während des Zweiten Weltkrieges war das aber verboten. Denn in jeder Familie gab es Gefallene. Sie erzählt (13'20), daß sie sich 1945 am Seeufer im Kahn ihres Vaters, eines Fischers, versteckt hat, um nicht von den russischen Soldaten vergewaltigt zu werden. Schließlich wurde sie doch noch vergewaltigt und davon schwanger. Sie wollte abtreiben, aber aus Sorge, danach keine Kinder mehr bekommen zu können, tat sie es nicht. Ihre Tochter wurde dann von ihrer Schwester aufgezogen. Die Polen haben sie dann aus ihrem Haus vertrieben. Sie durften aber nicht nach Deutschland aussiedeln, da ihr Vater in der Fischereigenossenschaft gebraucht wurde. Schließlich heiratete sie einen Polen. /

Abb. 4: Blick vom Seeufer auf Groß Garde

Vor der Kirche inmitten des Ortes findet sich das Kriegerehrenmal (Stolp). Es trägt noch die deutsche Inschrift:

Wo ihr schlummert nach Gottes Rat,
künftiger Ernte blutige Saat,
nimmer vergessen im deutschen Land,
ruhet in Frieden in Gottes Hand,
dort in der Heimat bei Jesu.
Dies war eine Anfang der 1920er Jahre auf Kriegerehrenmalen in Deutschland beliebte Inschrift (GB2014). Der Verfasser derselben ist einstweilen nicht festzustellen. Auf den Kriegerehrenmalen damals wurde dieses Gedicht mal mit (Wiki, a), mal ohne (a, b) die letzte Zeile genutzt. In Groß Garde mit der letzten Zeile.

Abb. 5: Kriegerehrenmal in Groß Garde

Auf der Tafel vor der Kirche steht unter anderem (und zwar auch in deutscher Sprache):

Die am Tor wachsenden roten Eichen wurden 1910 von Kaiser Wilhelm II. persönlich eingepflanzt.

Weiter nach Schmolsin. Besteigung des 115 Meter hohen, von Max Pechstein aus vielen Richtungen gemalten Revekol (Wiki). Auf dem Aussichtsturm herrlicher Ausblick auf den zu Füßen liegenden Garder See, die Ostsee dahinter, die Dünen vor der Ostsee, auf den Lebasee und nach Südosten weit in das "Blaue Ländchen" hinein Richtung Lauenburg und in den Landkreis Stolp. Außerdem Blick auf den Verlauf der Lupow rund um den Berg herum. Die Begeisterung für diesen Ausblick, festgehalten in einer zugänglichen Schrift von 1934 (1), kann völlig geteilt werden.

Angenehme Überraschung im Restaurant Kopernika "u Bernackich" in Schmolsin. Freundlich, sauber und ordentlich geführt. Es bietet auch ein reichhaltiges und bezahlbares Angebot veganer und glutenfreier Gerichte (Wiki):

Im 19. Jahrhundert waren Scholsin und der Revekol mit seinem Aussichtsturm beliebte Ausflugsziele, auch von Sommerfrischlern, zumal das Dorf von Stolp und Stolpmünde aus leicht mit dem Fahrrad zu erreichen ist

Nachmittags in den Dünen hinterm Strand bei Scholpin (Wiki) (Abb. 6).

Abb. 6: In den Dünen an der Ostsee nordöstlich von Rowe - Oder bei Scholpin (?) (auf Polnisch heißt Scholpin Czołpino)

Samstag, 11. Juni: Abreise von Rowe. Für einige Stunden noch einmal am Strand von Schönwalde. 

Stolp

Fahrt nach Stolp. Zunächst in die Pionkestraße 11 (heute "Pogodna 4") (Abb. 7) (Pr2022). Das Zusammenbringen des Stadtplanes von 1940 mit Google Maps ist nicht ganz einfach und dauert eine Weile. 

Auf Streetview war vormals noch zu sehen war, daß das einstige Kopfsteinplaster noch bis vor wenigen Jahren erhalten war. Die ruhige Straße ist heute sehr schön erneuert. Auch die Häuser rechts und links sehen heute in der Wirklichkeit angenehmer aus als man das auf den etwas älteren Bildern auf Streetview hat erahnen können.

Abb. 7: In der Pionkestraße 11 in Stolp, einem Neubauviertel von 1936, geprägt von Einfamilienhäusern mit - ziemlich modernem - Flachdach

Klingeln am Haus der Pionkestraße 11. Es öffnet ein ziemlich alter Mann. Er kann kein Deutsch oder Englisch. Wir können kein Polnisch. Es kommt keine Verständigung zustande. Vielleicht lebt er in diesem Haus schon seit 1945, geht uns durch den Kopf. Zu jedem Haus gehört nicht nur der auf Abb. 7 erkennbare Vorgarten, sondern auch noch hinter dem Haus jeweils ein kleiner Garten. 

Das heute noch eindrucksvolle Gebäude der Blücher-Kaserne (Pr2022) angesehen.**) Schließlich in die Innenstadt gefahren. Die Schloßkirche angesehen und den Eingangsbereich des daneben gelegenen Mittelpommer'schen Landesmuseums. An öffentlichen Gebäuden gibt es in seltenen Fällen auch Erläuterungstafeln in deutscher Sprache, ebenso im Museum. So richtig herzlich willkommen geheißen fühlt man sich als Deutscher, der von der langen Kulturgeschichte Pommerns weiß und sich mit ihr identifiziert, an diesem Ort nicht. 

Man liest zum Beispiel auf der Erläuterungstafel an der Schloßkirche vom "Lutherian riot" und fragt sich, in welchem Jahrhundert man sich hier gerade befindet. Die Reformation einer "riot" zu nennen, einen "Aufruhr", eine "Randale", das klingt nicht gerade respektvoll gegenüber einer anderen Konfession. Da scheint doch noch allzu viel aus der Sichtweise des Geistes der Gegenreformation heraus formuliert zu sein.

Von einem Mittelpommer'schen Landesmuseum erwartet man sich - schon im Eingangsbereich - viel mehr Eingehen auf die einstigen deutschen Bewohner dieser Provinz. Auch viel mehr freundliche Ansprache derselben. 

In Pommern fürchtet man offenbar immer noch, daß die Deutschen, "wieder kommen" und alles zurück haben wollen.

Dann an der Stolpe entlang zu Fuß Richtung Marktplatz. Der größte Teil der alten Stadt Stolp, der Altstadt aus der Zeit vor 1945, ist vernichtet, bewußt angezündet von den russischen Truppen im Jahr 1945. Was für eine Schande. Danach ist die Stadt außerordentlich häßlich wieder aufgebaut worden. Sie kann deshalb auch als sehr anstregend erlebt werden. Das eindrucksvolle Kreishaus in Stolp an der Stolpe-Brücke steht noch und läßt ein wenig den Geist dieser Stadt in der Zeit vor 1945 erkennen. Es ist schön renoviert und lädt zum Fotografieren ein (Abb. 8).

Abb. 8: Das Kreishaus in Stolp

Der ehemalige Marktplatz von Stolp ist greulich. Wenn man es nicht wüßte, würde man gar nicht ahnen, daß dies einst der ehrwürdige Marktplatz einer uralten deutschen Stadt gewesen ist, Jahrhunderte lang der Mittelpunkt des Lebens der Menschen vor Ort. Rundum häßliche, nichtssagende Neubauten. 

Ebenso rund um die Marienkirche, die nur wenige Meter zu Fuß entfernt liegt. Nur die Marienkirche selbst - sie steht uralt, breit, behäbig und ehrwürdig, liebenswert wie eh und je inmitten all dieser städtebaulichen, schändlichsten Kulturwüste (Abb. 9).

Abb. 9: Die Marienkirche in Stolp

Dann das Haus des Maurers Willi Blum und seiner Frau Minna, geborene Domke aufgesucht (Pr2022). Sie wohnten zwischen 1914 und 1936 in der Großen Auckerstraße 38 in Stolp (Abb. 10).

Abb. 10: Die Große Auckerstraße 38 in Stolp (Blick nach Osten)

Der heutigen Großen Auckerstraße ist anzusehen, daß dort auch schon vor 1945 eher Handwerker und Arbeiter wohnhaft waren. Sie führt an ihrem Ende direkt ins Grüne der Flußaue der Stolpe. Falls die Hausnummer aus der Zeit vor 1945 beibehalten worden sein sollten, befindet sich in der "Großen Auckerstraße 38" heute im Erdgeschoß ein Friseurgeschäft.

Abb. 11: Die Große Auckerstraße in Stolp mit Blick nach Westen auf die zu ihr quer verlaufende Bütower Straße - Rechts die - einstige - Luther-Kirche

Die Große Auckerstraße ist vom Schloß (heute Mittelpommersches Landesmuseum) und seiner Schloßkirche in fünf bis zehn Minuten Fußweg zu erreichen. Richtung Osten (Abb. 12) waren das Schwimmbad und die Schrebergärten in der Stolpe-Niederung, ebenfalls nicht weit entfernt.

Abb. 12: Die Große Auckerstraße in Stolp mit Blick Richtung Osten (Richtung Stolpe-Niederung)

Dann das Wohnhaus des Lehrers Nemitz und seiner Frau Minna und ihrer drei Kinder aufgesucht, nämlich in der Goethestraße 2, das Haus, in dem sie zwischen etwa 1901 und 1935 gelebt haben (Abb. 13) (Pr2022).

Abb. 13: Goethestraße 2 in Stolp (heute "Władysława Reymonta 2")

Sollten die Hausnummern aus der Zeit vor 1945 beibehalten worden sein, dann handelt es sich um das Haus in Abb. 13, das heute von allen Häusern in dieser Straße das sorgfältigst renovierte ist, ähnlich wie die vormalige 3. Gemeindeschule in der Friedrichstraße gleich um die Ecke (Abb. 15). 

Ansonsten atmet die Goethestraße heute den "Charme" eines ein wenig herunter gekommenen Stadtviertels.***)

Abb. 14: Ecke Schillerstraße/Goethestraße in Stolp mit Blick nach Süden in die Schillerstraße - Das große spitze Dach, ebenso wie das kleine im Hintergrund gehören zu Bürgerhäusern

Gleich um die Ecke in der Friedrichstraße findet sich überraschenderweise die ehemalige Gemeindeschule 3 (Abb. 15). An ihr hat der Lehrer Nemitz zwischen 1901 und 1914, sowie im Jahr 1916 als Lehrer gewirkt. Auf diese Schule werden auch seine drei Kinder in den ersten Schuljahren gegangen sein. Das große eindrucksvolle Gebäude wird bis heute als Schule genutzt.

Abb. 15: Die ehemalige Gemeindeschule 3 in Stolp in der Friedrichstraße, an der Ecke zur Goethestraße

Mit keinem Wort wird auf den zahlreichen Tafeln rund um das Portal der Schule der Geschichte dieser Schule in deutscher Zeit gedacht.

Gegenüber von der Gemeindeschule 3 findet sich ein - noch heute gelber - Bau. Er beherbergte 1940 - laut damaligem Stadtplan - das Finanzamt. Wenn dies das Finanzamt war, dann fand es damals noch in einem vergleichsweise kleinen Gebäude Platz. Heute ist darin eine Polizeistation untergebracht.

Klein Strellin und Zanow

Der Aufenthalt in Stolp und das Zurechtfinden in seinen bunten Mischmach von zugleich fremden und bekannten Straßen war sehr anstrengend. 

Übernachtung von Samstag auf Sonntag in einer schönen, ruhigen Ferienwohnung in Klein Strellin. Dies ist ein ehemaliges, kleines Bauerndörfchen einige Kilometer außerhalb von Stolp. Dort waren auch zwei Fahrradfahrer untergekommen. Sie befanden sich auf einer Tour von Swinemünde bis zur Halbinsel Hela. Einer von ihnen konnte recht gut Deutsch, arbeitete als Architekt in Berlin. Er fragte ein wenig besorgt, wie uns der Aufenthalt in Pommern gefallen habe. Sehr gut, antworteten wir. Ansonsten sind wir nur sehr wenigen Polen begegnet, die Deutsch oder Englisch sprechen konnten. Es ist sehr geraten, auf einer solchen Fahrt die Google Übersetzer-App zu nutzen, die den Austausch vermutlich vereinfacht hätte.

Auf der Rückfahrt am nächsten Tag Durchfahrt durch das Städtchen Zanow (Wiki) (Abb. 16), kurz vor Köslin.

Abb. 16: Ortsdurchfahrt Zanow in Pommern

Pommern. "Gleich hinter Berlin". Gar nicht weit weg. 

Wer glaubt, daß es auf die Deutschen in der Weltgeschichte nicht ankommt, wer glaubt, die Weltgeschichte hätte eh keinen Sinn, ebensowenig wie das Leben einen allgemein gültigeren Sinn hat, der muß die Lieblosigkeit nicht beachten und nicht auf sich wirken lassen, die ein sehr vorherrschendes Element in der Völkergeschichte der letzten hundert Jahre gewesen zu sein scheint. Schließen wir mit dem deutschen Dichter Ernst Bertram (1884-1957) (Wiki):

Aber erst Gräber
Schaffen Heimat.
Erst unsre Toten
Geben uns Licht.
 
Erst wo auf Hügeln
Klagende knien,
Erst über Särgen
Werdet ihr Volk.
 
Erst wo auf Trümmern
Herrlichen Erbes
Ihr in Euch einkehrt,
Werdet ihr Licht.

 

/ leicht überarbeitet: 
20.2.23 /

________

*) Die heutige Straße "Pogodna" führt nämlich nicht mehr hindurch bis zur einstigen Kattenborn-Straße im Norden, sondern in einem Bogen nach Westen bis zum vormaligen Reiterweg. Der Bebauung nach zu schließen, könnte diese Straßenführung noch während des Zweiten Weltkrieges entstanden sein. 
**) Dieses suchten wir ebenfalls zunächst am ganz falschen Ort. Es findet sich in der ehemaligen Blücher-Straße, nicht in der Nähe des ehemaligen Regiments-Sportplatzes, wo wir es irrtümlich zuvor verortet hatten.
***) Gegenüber von Goethestraße 2 befindet sich heute ein Laden des Rotlichtmilieu's, von denen es gleich mehrere in den umliegenden Straßen gibt.
________
  1. Bading, I.: Am Garder See in Pommern, 5.6.2022, https://youtu.be/b1x3zQ_h738
  2. Witt, Walter: Der Revekol und seine Umgebung in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Stolp i. Pommern o.J. [1934?], http://bibliotekacyfrowa.eu/dlibra/doccontent?id=38235
  3. Majerski, Michael: Meiner Mutter Land / I was once a German, Arkonafilm 2022, https://youtu.be/vfegWSKiivg

Freitag, 3. Juni 2022

Pechstein - Ein Maler in Pommern

Der Maler Max Pechstein entdeckt die Pommersche Ostseeküste zwischen Garder und Leba-See
- Von Nidden nach Leba, von Leba nach Rowe, von Rowe zum Revekol
- Die Jahre 1921 bis 1945 

Betrachtet man die Werke des deutschen Malers Max Pechstein (1881-1955) (Wiki) aus den Jahren zwischen 1927 und 1945 als eigene Werkgruppe und für sich genommen, stellt man fest, daß die Bilder dieser Jahre zwar auch zu hohen Preisen gehandelt werden (selten unter 100.000 Euro), daß sie aber weniger sozusagen "legendär" sind innerhalb des Gesamtwerkes von Max Pechstein, daß sie also sozusagen eine ruhigere Phase in seinem künstlerischen Schaffen repräsentieren. Es finden sich etwas weniger provozierende, perspektivische Verzerrungen und "Verfremdungen" als in vielen seiner - deutlich bekannteren - Werke aus den Schaffensperioden davor - und zum Teil auch aus seiner letzten Schaffensphase danach, nach 1945.

Abb. 1: Herbstwolken, 1927 - Gemälde von Max Pechstein, Privatsammlung Berlin (Auction) - Offensichtlich die Lupow im Ostseebad Rowe

Als zeitweiser Angehöriger der expressionistischen Künstlergruppe "Die Brücke" ist Max Pechstein bekannt geblieben. Innerhalb derselben hat er lange vor 1914 im Umland von Dresden sehr bekannte expressionistische Werke geschaffen. Wie mancher französische Expressionist vor 1914 hat er auch auf den Südsee-Inseln gemalt. Und auch diese Werke sind innerhalb seines Gesamtwerkes recht bekannt geblieben. Dann hat er lange Jahre in Berlin gelebt - in der Kurfürstenstraße. Dort hat er die für Expressionisten typischen Großstadt-Bilder gemalt. Seit 1909 ist er bis 1945 fast jeden freien Sommer für viele Wochen zum Malen an die Ostsee gefahren. Bis 1920 war diese Urlaubsgegend die Malerkolonie Nidden an der Kurischen Nehrung in Ostpreußen. Die Bilder dieser Schaffensperiode sind ebenfalls "legendär". Ab 1921 waren die von ihm gewählte Urlaubsgegend Leba am Lebasee in Pommern und das davon südlich gelegene "blaue Ländchen". Und nachdem ihm das Ostseebad Leba touristisch zu überlaufen geworden war, wählte er zwischen 1927 und 1945 sehr oft auch Rowe am Garder See in Pommern als Urlaubsort.

Alle genannten Orte haben insbesondere durch seinen Aufenthalt dort für die europäische Kunstgeschichte Bedeutung bekommen. Vielleicht kann man so weit gehen und sagen, daß der Pommersche Berg Revekol in der Kunstgeschichte der deutschen Expressionisten eine ähnliche Rolle spielt wie der Berg Sainte-Victoire in der Provence, der sich so häufig zum Beispiel auf den Bildern von Paul Cezanne wieder findet. 

Abb. 2: Garder See und Leba-See in Pommern (Karte von 1930, Ausschnitt) (Stolp.de)

Pechstein hat im Verlauf seines Malerlebens neben den Ölgemälden und Landschaften in kraftvollsten Farben immer häufiger auch Aquarelle mit oft deutlich zurückhaltenderer Farbwahl gemalt. Dies gilt insbesondere für viele Aquarelle ab 1927, die in Rowe und Umgegend geschaffen wurden.

Im letzten Beitrag hier auf dem Blog hatten wir von der "Schulamtsbewerberin" Charlotte Nemitz (1905-1987) aus Stolp in Pommern berichtet (Prbl2022). Sie war in Stolp als Lehrertochter aufgewachsen und hat sicher oft an der Ostsee, etwa in Rowe oder in anderen Ostseebädern Urlaub gemacht. Am 1. Januar 1936 war sie von einer Schule in Stolp auf die Dorfschule des Fischerdorfes Klucken (Wiki) am Leba-See gekommen. Das Dorf war damals schon mit der Bahn zu erreichen (Abb. 2). In Klucken gab es eine vierstufige Volksschule. 145 Schulkinder wurden in vier Klassen von drei Lehrern unterrichtet (Wiki). 

Es war der letzte Ort, an dem die heute ausgestorbene Slowinzische Sprache gesprochen wurde. Sie wurde von den dortigen Fischern gesprochen. Diese wurden "Lebakaschuben" genannt. Ihrer wird heute vor Ort mit einem Freilichtmuseum gedacht. Allerdings sind die Einwohner auch dieses Dorfes - und damit auch die Nachfahren der Lebakaschuben - 1945 zwangsumgesiedelt worden (Wiki):

Später wurden in der Bundesrepublik Deutschland 342 und in der DDR 192 aus Klucken vertriebene Dorfbewohner ermittelt.

Die heutigen Bewohner von Klucken sind gar keine Nachfahren der Lebakaschuben mehr. Das Dorf Klucken liegt inmitten landschaftlicher Schönheiten am Südwest-Ufer des Leba-Sees (Abb. 2). Im Norden liegen die berühmten Wanderdünen, die "Lontzke-Dünen". Die Ostseeküste zwischen den Fischerdörfern Rowe ("Rowy") (Wiki) am Garder See (Wiki) im (Süd-)Westen und Leba (Wiki) am Leba-See (Wiki) im (Nord-)Osten (die letztere Ortschaft auf Abb. 2 rechts außerhalb des Bildrandes), alle etwa dreißig Kilometer nördlich der Kreishauptstadt Stolp gelegen, war von den Malern Pommerns und aus Stolp als Landschaft schon vor 1914 entdeckt worden.

Abb. 3: Die Lupow-Mündung bei Rowe, 1927 (Postkarte) - Vorne die Lupow, im Hintergrund der Garder See, dahinter der Revekol

Die genannten Seen sind jeweils nur durch eine schmale Landzunge von der Ostsee getrennt. Auf der Landzunge, die den Lebasee vom Meer trennt, liegt das Dörfchen Rumbke ("Rabka") (Erin.) (Abb. 2 rechter Bildrand) und dahinter die Lontzke-Düne (Wiki). Über das kleine Dorf Holzkathen, das auf halbem Wege zwischen Garder See und Leba-See liegt, wird in einem Text von 2014 geschrieben (1):

Der Ort Holzkathen (Smołdziński Las) liegt am Rande des Slowinzischen Nationalparks. Riesige Wanderdünen auf der Nehrung und ein fast 40 km langer Naturstrand, hinter dem sich ausgedehnte Küstenwälder und Binnenseen (Leba- und Garder See) erstrecken, machen diese Küstenlandschaft zum Geheimtipp für alle Naturliebhaber. Aufgrund seines Artenreichtums und der landschaftlichen Vielfalt ist der Nationalpark u.a. Mitglied des UNESCO-Programms Mensch und Biosphäre (seit 1977), der Internationalen RAMSAR-Konvention zum Schutz von Feucht- und Moorlandschaften und des Europäischen Umweltschutznetzwerkes Natura 2000. (...) Über der Nehrung am Lebasee erhebt sich die Lonzkedüne (Łąska Góra), die mit 42 m höchste Wanderdüne des Nationalparks. An den Ufern des Sees liegen streng geschützte Nistgebiete des Schwarzen Kormorans und der anderen über 180 Vogelarten, die hier alljährlich nisten. Im Sommer kann man auf dem Garder See auf zugewiesenen Gebieten Surfer und Kajakfahrer beobachten. Die verwunschenen, von tiefen Küstenhochwäldern umgebenen Binnenseen Kleiner und Großer Dolgensee sind ein Eldorado der Wasservögel und Biber.

Nachdem im Januar 1920 die Kurische Nehrung in Ostpreußen und die dortige Künstlerkolonie Nidden (Wiki) für seine Künstler - darunter Maler wie der Ostpreuße Lovis Corinth oder eben der Sachse Max Pechstein, nicht mehr zu erreichen waren, suchte insbesondere letzterer nach neuen, vergleichbaren Orten entlang der Ostseeküste. Pechstein schreibt in seinen Erinnerungen (Seebad Leba) (2, S. 107):

Zu Fuß streifte ich die Ostseeküste, nach Westen marschierend, ab. Ich entschloß mich zuletzt, in Leba mein Standquartier zu errichten. Wenngleich dort andere Menschen, andere Fischertypen, lebten, so wiesen doch die große Lontzker Wanderdüne und das weit ausgebreitete Dünengelände eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kurischen Nehrung auf, die mich bewog, hier zu arbeiten.

Von 1921 bis 1926 arbeitete Pechstein in den Sommermonaten in Leba. Ab 1927 suchte er nach einem zurück gezogeneren Ort, den er im Ostseebad Rowe am Garder See fand. 

Abb. 4: Pommersche Fischerkaten (in Rowe), 1927 (Koller)

Auch nach 1927 kehrte er wiederholt nach Leba zurück, wo er seine zweite Frau 1921 kennen gelernt hatte, und wo seine Schwiegereltern ein Hotel führten. Das Ostseebad Leba wirbt heute auch mit dem Umstand, daß Pechstein hier gemalt hat ("In farbgewaltigen Landschaftsgemälden verewigte Pechtstein die Schönheit der Gegend." [Seebad Leba])

Wir erfahren auch (Ketterer):

Der Künstler lernt diese Küstenlandschaften schätzen und lieben. "Sei es nun, daß ich auf meinen Streifzügen weiter ins Land hinein, ins 'blaue Ländchen' kam, in herrliche Wälder, zwischen denen verborgene Seen aufblitzten und sprudelnde Flüsse und Bäche sich durch die Landschaft schlängelten. Außerdem bargen die Wasser hier herrliche Fische, und es gab für mich nichts Besseres zur Beruhigung der Nerven, als ihnen nachzustellen (...). Dabei ruhte der Stift nicht. Alles, was ich sah und um mich erlebte, wurde unerbittlich festgehalten (...). Ich erhielt dadurch eine Sicherheit, die mich nicht versinken ließ in dem Zusammenbruch nach dem Kriege." (zit. aus: Jürgen Schilling, Max Pechstein, Unna 1989, S. 139).

"Zusammenbruch nach dem Kriege" - so hat dies also auch Max Pechstein erlebt. Er hatte ja als Patriot bei Kriegsausbruch 1914 mit allen Kräften gestrebt, von jener Südsee-Insel, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hatte, nach Deutschland zurück zu kehren. Es gelang ihm dies unter schwierigen Umständen über die USA hinweg. Nach der sehr komplizierten Rückreise während des Krieges war er in den Jahren 1916 und 1917 an der Westfront als Soldat eingesetzt worden. Aus diesen Erfahrungen heraus hat eindrucksvolle Kunstwerke geschaffen. Den "Zusammenbruch nach dem Kriege", den Verlust unter anderem des Memellandes mit der Künstlerkolonie Nidden hat er als solchen wie so viele Kriegsteilnehmer als ein erschütterndes Geschehen erlebt, auch als ein solches, das einen hätte "versinken" lassen können.

Was aber war das hier genannte "blaue Ländchen"? So wurde das Landesinnere der Landkreise Lauenburg (Wiki) und Bütow (Wiki) genannt, also die Gegend südlich von Leba (Rek.) (Wiki). Es gibt eine Postkarte von Lauenburg aus den 1930er Jahren, betitelt "Lauenburg in Pommern - Blick ins blaue Ländchen" (Flickr). 2016 erschien das Büchlein "Leba  im Blauen Ländchen 1357-1945" (3) (Fb). Auf der Rückseite des Büchleins steht (Am):

Wer blöden Aug's vorübergeht,
Der sieht hier nichts als Sand.
Doch in wess' Herz die Schönheit glüht,
Dem dünkt's ein Wunderland.

An dieser Stelle ein wenig Landes- und Heimatkunde: Der Landkreis Lauenburg war der östlichste Landkreis Pommerns. Er erstreckte sich an der Küste von der Leba aus gut dreißig Kilometer nach Osten bis zur Grenze nach Westpreußen bei Wierschutzin (Wiki) (G-Maps). Das heißt, das Land östlich von Wierschutzin bis zur Halbinsel Hela gehörte gar nicht zu Pommern, sondern zu Westpreußen. Es gehörte zum Landkreis Neustadt in Westpreußen (Wiki). Und die Einwohner des Landkreises Neustadt waren im Jahr 1905 zu etwa 50 % deutsch- und zu 50 % polnisch- bzw. kaschubischsprachig. Sie waren zu etwa 25 % protestantisch und zu 75 % katholisch. Es handelte sich hier die sogenannte "Kaschubei", bzw. um einen Teil derselben.

Auf einem in Bütow in Pommern 1921 ausgegebenen "Notgeld" hat man die Worte festgehalten (Flickr):

"Blaues Ländchen" man unser Land
Seit alter Zeit schon hat genannt.
Blau der Duft, der die Berge umschwebt,
Blau die Treue, die im Pommern lebt.
Wie diese einst bewährt in mancher Schlacht,
So hält sie jetzt an neuer Grenze Wacht.

All dies gehörte auch zur Heimat der damaligen Lehramtsanwärterin Charlotte Nemitz. 

Abb. 5: Sonnenuntergang, 1927, Aquarell (Lempertz) - Blick nach Westen, gegebenenfalls über die Lupow bei Rowe

Und es sei auch noch das folgende festgehalten, was wir über die Geschichte der Landschaft zwischen Leba-See und Garder See zu lesen bekommen (1):

Der Preußenkönig Friedrich der Große war es, der in der 2. Hälfte des 18. Jh. per Kabinettsorder die Trockenlegung der Moore zwischen dem Garder See und dem Lebasee verfügte. Nach seinem Minister von Brenkenhof wurde auch der Verbindungskanal zwischen den beiden Binnenseen benannt. In der Folgezeit wurde die Region immer wieder Ort großräumiger Meliorationsvorhaben. Nach 1945 betrieb ein Staatsgut mit 250 Beschäftigten auf den meliorierten Weiden eine hochproduktive Viehwirtschaft und Grünfutterproduktion. Die Futterexporte gingen für harte Devisen ins skandinavische Ausland. Der Zerfall des Staatsbetriebes nach der Wende Anfang der 90er ließ viele Gräben wieder zuwuchern. Wasservögel und Biber eroberten sich das Land zurück.

Und diese Landschaft nun hat auch der Maler Max Pechstein durchstreift und sie - aus verschiedenen Perspektiven - in Bildern festgehalten.

1921 - Von Nidden nach Leba in Pommern

So lesen wir etwa (Musenblätter 2015):

Als nach dem Versailler Vertrag Nidden zu Litauen fiel und für Pechstein versperrt war, entdeckte er das hinterpommersche Fischerstädtchen Leba für sich - vorn die See, dahinter die Strandseen. Vor dem trubeligen Strandleben floh Pechstein 1927 in das nahegelegene Dörfchen Rowe - die neu gefundene Abgeschiedenheit schätzte er mehr als daß das Fehlen von Strom und fließendem Wasser ihn störte. Bis in die Kriegsjahre hinein verbrachte Pechstein die warmen Monate in Hinterpommern.

Nein: Bis 1945. Schon ab dem Jahr 1921 entstehen seine ersten Werke in Leba, zum Beispiel: "Fischereihafen in Leba" (1921), "Dorfstraße in Leba" (1921), "Am Strom im Winter" (1922), "Dünenlandschaft" (1922), "Zwei Kutter im Hafen von Leba" (1922), "Sonnenuntergang am Lebastrom" (1925), "Sonnenuntergang im Hafen von Leba" (1926), "Geknickter Baum vor Pommerscher Dorflandschaft" (1927) (Ketterer):

"Die Aufenthalte von Max Pechstein an der Ostseeküste in Pommern sind legendär. Nirgendwo hatte sich Pechstein so wohl gefühlt, wie unter den Fischern und Bauern in Ostpommern. Die große Fülle der malerischen Arbeiten aus dieser entbehrungsreichen Nachkriegszeit zeugt von einer Befreiung von Körper und Seele nach den traumatischen Erlebnissen des Ersten Weltkrieges."

Nach 1927 entstehen rund um Rowe und rund um den Garder See Gemälde und Aquarelle wie "Blick auf den Revekol" (1929), "Morgensonne auf dem Garder See" (1929), "Seewinkel am Garder See" (1929), "Fischer mit Booten an der Lupow-Mündung" (1929), "Morgen in Rowe" (1931), "Toter Wald vor Revekol" (1934), "Ruderboot am Garder See" (1935).

Abb. 6: Sommerabend, 1927, Ölgemälde (Koller) - Im Hintergrund der Revekol, vielleicht Blick aus der Gegend von Wobesde, südlich des Garder Sees auf diesen

Wir bringen im vorliegenden Beitrag nur eine kleine, womöglich gar nicht einmal repräsentative Auswahl aus der Vielzahl der hier entstandenen Gemälde und Aquarelle. Zeichnungen und Holzschnitte bringen wir gar nicht. Die Werke von Max Pechstein unterliegen noch bis zum Jahr 2030 dem deutschen Urheberschutz. Wir hoffen nicht, daß wir gegen dasselbe mit dieser kleinen Auswahl verstoßen. Über eigenständige Bildersuche im Internet kann sich der Leser leicht einen weiteren Überblick und Einblick verschaffen (Gal.):

Das im heutigen Polen liegende Leba in Pommern an der Ostseeküste, wird Pechsteins dritter Sehnsuchtsort, an dem er künstlerisch zu einem neuen Selbstverständnis gelangte. Dieses „baltische Arkadien“ war wie zuvor schon Nidden, ein Ort, der für ihn wie Fehmarn für Kirchner oder Alsen für Nolde als Zufluchtsort vor der Stadt und Quelle der Inspiration und Vitalität diente. Pechstein reist erstmals im März 1921 nach Leba auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstätte. Nach Nidden, im heutigen Litauen konnte er aus politischen Gründen nicht mehr reisen und so verbringt der Künstler bis 1945 seine Sommer in Leba und ab 1944 lebt er sogar dort. Pechstein findet hier ein landschaftliches Paradies wieder, was ihn mit seiner unberührten Natur und Ursprünglichkeit an die Südsee erinnerte. Er entflieht Berlin, der Großstadt und den Alltagsquerelen in die Natur und in alternative Lebensbedingungen. Unter den Fischern der Küste lebt Pechstein, der sich ihnen verwandt fühlt, nach den Zeugnissen dieser Jahre, buchstäblich auf: "…freue mich, bald wieder losfahren zu können, und ungehindert in der Natur zu leben", schreibt er im Frühjahr 1922 an Walter Minnich. Es entsteht motivisch wie künstlerisch in Bezug auf das gesamte Oeuvre sehr Wesentliches, so daß die Gemälde dieser Epoche als Höhepunkte seiner malerischen Produktion bezeichnet werden dürfen.
1921 wird Pechstein noch von seiner ersten Frau Lotte und dem gemeinsamen Sohn Frank begleitet, die ihren Sommerurlaub hier verbringen. Man wohnt im Gasthof Möller, wo Pechstein allein zurückbleibt, nachdem Frau und Kind wieder nach Berlin zurückgekehrt sind. Pechstein beginnt die zwei Töchter des Gastwirts Marta und Liese Möller zu proträtieren, wobei er besonderes Interesse an der 16jährigen Marta entwickelt. Eine große Anzahl an Porträts und Figurenbildern entstehen. Bereits am 4. August schreibt er seinem Schulfreund Alexander Gerbig in einem Brief, daß er sich in Marta verliebt hat: "Noch dazu habe ich mich (…) in einen kleinen schwarzen Teufel verguckt (…)" Noch kurz vor Weihnachten desselben Jahres läßt er sich von Lotte scheiden - die später Martas Bruder Hermann heiraten wird. Pechstein heiratet Marta 1923 - inzwischen 18jährig - im Gasthaus ihrer Eltern.
1922 verbringt er sowohl die Monate Mai bis September als auch den Dezember in Leba. Zu dieser Zeit entsteht auch das Gemälde „Interieur“, ein Figurenporträt Martas in einem Zimmer im Strandhotel ihrer Eltern. Es ist eine intime Darstellung, die eine ganz in sich versunkene junge Frau zeigt. Die Farben des Innenraums changieren in Violett, Blau- und Grüntönen und umrahmen Marta, die in ein leuchtend rotes Gewand gekleidet, den Mittelpunkt der Komposition bildet. Der Pinselstrich ist locker bis lasierend, die Farben gehen harmonisch ineinander über und werden durch die dunklen Konturen akzentuiert. Die Arbeit zeigt beispielhaft Pechsteins virtuosen Umgang mit der Farbe, die für ihn in dieser Hochphase seines Schaffens zum Mittelpunkt seiner künstlerischen Meisterschaft geworden war.

Marta Möller und das gemeinsame Kind werden Gegenstand zahlreicher Werke so wie dies zuvor seine erste Frau und das gemeinsame Kind gewesen sind. Marta wird häufig mit dem für die damalige Zeit typischen, modernen "Bubikopf" dargestellt.

Abb. 7: Fischerkaten (in Rowe), 1928 (KuF)

In einem Buch über Max Pechstein aus dem Jahr 1922 liest man (Osborn, Max: Max Pechstein, Propyläen, Berlin 1922, S. 9, Archiv):

"Klarer hebt sich aus den allmählich zerrinnenden Nebeln der Wirrnis das große Ziel des jungen Geschlechts unserer Tage: eine neue Welt aufzubauen."

Diesem Ziel würden die Künstler dienen.

In der Tat ist es ein - sozusagen - sehr "modernes" Pommern, das wir auf den Gemälden von Max Pechstein kennen lernen. Es ist nur selten jenes vormoderne, bäuerliche und gutsherrschaftliche Pommern der Zeit vor 1945, das auf Schwarz-Weiß-Fotografien jener Jahre als typisch für Pommern so oft zu sehen ist und die Erinnerung der Heimatvertriebenen vor allem geprägt hat. 

Max Pechstein hat sogar selbst in jenen Jahren rege fotografiert und seine Fotografien in einem Album gesammelt. Das wurde gerade erst in diesem Jahr in Ausstellungen bekannt (4). So hat er zum Beispiel Fischer fotografiert, die ihre Boote - gegen die Strömung - in das Landesinnere ziehen. Es könnten dies Fotografien sein, die in Rowe (oder bei Schmolsin?) an der Lupow entstanden sind. Er hat Fischer fotografiert, die ihre Fische zum Verkauf aufbereiten, Fischer, die ihre Netze flicken und anderes mehr. 

Abb. 8: Weißes Haus, 1928 (Artnet)

Auch viele Motive der Werke von Max Pechstein finden sich in seinen Fotografien wieder, etwa Fischerhäuser (4).

1927 - Von Leba nach Rowe: "Nicht laut schreien"

Zu dem Gemälde "Fischerkaten" von 1928 (Abb. 7) lesen wir (KuF):

Im Juni 1927 beschloß Pechstein erstmalig, den Sommer in dem abseits gelegenen Fischerdorf Rowe in Hinterpommern zu verbringen, dem heutigen Rowy in Polen. Auf der schmalen Landzunge zwischen Garder See und Ostsee gelegen, bestand das Dorf aus alten Häusern "von 130 Jahren, mit Schilf gedeckt, die Zimmer so winzig, daß ich bequem mit der Hand die Decke erreiche", wie Pechstein schrieb. Diese kleinen Gehöfte und Fischerhütten inspirierten Pechstein in den Jahren 1927 bis 1930 wiederholt zu Gemälden. 1928 hielt Pechstein sich von Mai bis Anfang Oktober in Rowe auf. In einem Brief an seinen Freund Alexander Gerbig schwärmte Pechstein von Rowe: "Es ist ein ganz abgelegenes Nest, aber herrliche Landschaft und vor Allem kann man da herumlaufen, wie es einem Spaß macht, ganz ungeniert" (Soika S. 79). Während er bei seinem ersten Besuch die Gegend hauptsächlich zeichnerisch erfasste, widmete er sich 1928 vor allen Dingen der farblichen Wiedergabe des Gesehenen. Es entstand jetzt eine Reihe kleinerer Gemälde, deren Maximalmaße unter 70 cm blieben. Pechstein schrieb: "Nun sind größtenteils Arbeiten kleineren Formats entstanden, die Stimmung und die Gegend brachte es mit sich, daß ich sah, es sei besser nicht laut zu schreien, was man leise viel eindringlicher sagen kann." So führte er auch das vorliegende Gemälde in einem kleineren Format aus. Hier zeigt er die spitzen Giebel der Fischerkaten, die kaum über die schützenden Dünen zur Ostsee ragen.

Man möchte fast sagen, daß diese zurückhaltenderen Werke, die ab 1927 in Rowe entstanden sind, noch mehr zu Herzen gehen können als die "lauteren", die in den vielen Lebensjahren davor entstanden waren.

Abb. 9: Blick auf den Revekol, 1929 (Mur) - Vermutlich wiederum von der Südseite des Garder Sees gesehen

Wir lesen auch (Wiki):

Der Maler Max Pechstein verbrachte von 1927 bis 1944 jeden Sommer in Rowe und traf sich hier auch mit vielen Künstlern. 

Unter anderem mit Schmidt-Rottluff (6-9). Und (Wiki):

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Garder See von Künstlern als malerisches Motiv entdeckt. Der Maler Max Pechstein hielt sich ab 1922/23 wiederholt in Rowe auf und machte auch den Garder See zum Gegenstand seines Schaffens. Sein Gemälde „Morgensonne“ (1929) zeigt den Garder See mit Fischerbooten, im Hintergrund den Revekol. Für das Heft „Garder See“ der Zeitschrift Unser Pommerland steuerte er 1931 eine Zeichnung bei, die einen Reusensteller auf dem Garder See zeigt. Der pommersche Heimatdichter Klaus Granzow beschreibt in seiner Erzählung "Der Tanz auf dem Gardersee" eine Begebenheit, die sich im März 1945 zugetragen haben soll: Während die Front zwischen der deutschen und der sowjetischen Armee mitten durch den zugefrorenen Garder See verlief, habe eine deutsche Frau auf Schlittschuhen auf dem Eis getanzt. Der Maler Max Pechstein habe diese Szene auf Verlangen eines sowjetischen Offiziers gemalt. 

Ob diese Erzählung wirklich etwas mir der Realität des Jahres 1945 in Pommern zu tun hat? Uns erscheint das sehr zweifelhaft. Wer sollte in jenen Schreckenswochen und -monaten wohl die Lust aufgebracht haben, Schlittschuhe zu laufen?

Abb. 10: Seewinkel, Garder See, 1929, Aquarell (vanHam)

Zu dem Gemälde "Pommersche Fischerkaten" von 1927 lesen wir (Koller):

 "... aber was ist das gegen meine Arbeitswut im geliebten Pommern, ich komme nicht darüber hinweg, das unverfälschte Leben in unverfälschter Natur fehlt mir. Ich zapple hin und wieder sehr, und sehne mich unentwegt danach, und hoffe doch, es noch einmal zu erleben, einmal wieder hinauffahren zu können..." (zit. Zeit für Kultur und Geschichte, Heft 4/2007, S. 30). (...) Seit 1921 reist er regelmäßig nach Pommern, um dort einige Monate fernab der hektischen Großstadt Berlin zu verbringen. Gleich im ersten Jahr lernt er in Leba seine zweite Frau Marta Möller kennen. Bis 1927 hält er sich, vornehmlich in den Sommermonaten, regelmäßig in Leba auf, erkundet aber auch die Umgebung. (...) Auf diesen Wanderungen stößt er dann 1927 auf das Fischerdorf Rowe, das nur durch eine Düne von der Ostsee getrennt ist, aber durch seine Lage am Garder See schwer zu erreichen ist. Die kommenden Jahre verbringt er seine Aufenthalte in Pommern überwiegend dort. Aber wie schon zuvor in Leba zieht er sich gegen 1933 auch aus Rowe zurück, da die naturbelassene Idylle durch den zunehmenden Tourismus zerstört wird. Typisch für das kleine Fischerdorf Rowe sind die zahlreichen alten, mit Schilf bedeckten Fischerkaten, die auch in dem vorliegenden Werk dargestellt sind. Rechts und links von einem kleinen Weg stehen die Fischerkaten mit weißen Fassaden und den grün-bräunlichen Schilfdächern. Weiße Wolken ziehen über sie hinweg, lassen aber die Sonne doch durchscheinen. Eindrücklich spielt Pechstein hier mit Licht und Schatten. Etwas verloren, im Vordergrund des Bildes, kommt ein kleiner Junge den Weg entlang gelaufen. Die Auseinandersetzung mit dem "Primitiven" hat immer eine besondere Rolle für die Expressionisten gespielt. Dabei wenden sie ihren Blick aber nicht nur auf fremde Kulturen, sondern auch auf die raue, noch sehr ursprüngliche Lebensweise auf dem Land, fernab der Großstadt. Anders als noch im 19. Jahrhundert suchen die Expressionisten das natürliche und idyllische Leben und finden es in den "Primitiven". Natürlich stellen diese Motive zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Affront dar, denn die Darstellung vom oftmals sehr einfachen und ärmlichen Leben auf dem Land ist bis dato nicht Gegenstand der anerkannten Bildenden Kunst gewesen. Pechstein selbst nimmt Teil an diesem Leben und scheint große Inspiration aus dem einfachen Leben zu ziehen.

Der 115 Meter hohe Revekol (Wiki) liegt zwischen dem Garder See und dem Lebasee.

1929

Im Nordosten des Berges liegt das Dorf Schmolsin (Smołdzino), im Südwesten des Berges das Dorf Groß Garde (Gardna Wielka). Im Osten und Norden wird der Berg von dem Fluß Lupow (Łupawa) umflossen, der selbst, und dessen an ihm lebende Menschen auch mehrfach Gegenstand von Gemälden und Zeichnungen von Max Pechstein geworden sind.

Abb. 11: Getreideernte, 1930 (KuF) - Im Hintergrund wiederum der Revekol, wiederum Blick aus der Gegend südlich des Garder Sees nach Osten

Der Revekol gehört zu einem der drei "Heiligen Berge" der Pommern. Jahrhunderte lang war er ein Wahrzeichen für die Ostsee-Schiffahrt. Von ihm aus hat man noch heute einen herrlichen Ausblick auf die Dünenlandschaft der Ostseeküste im Norden, auf den Leba- und den Garder See davor, ebenso wie auf das Landesinnere im Süden. Im Internet ist eine begeisterte Schilderung dieses Berges und seiner Geschichte aus den 1930er Jahren frei verfügbar, dank des Mittelpommerschen Landesmuseums in Stolp (5).

1930

Der Berg im Hintergrund auf dem Gemälde "Getreideernte" von 1930 dürfte ebenfalls der Revekol sein (Abb. 11).

1933

.

Abb. 12: Wanderer in den Dünen, 1933 (Mutualart)

Das Werk "Wanderer in den Dünen" von 1933 dürfte wieder in der Lentzke-Düne bei Leba entstanden sein (Abb. 12).

1934

.

Abb. 13: Sonnenuntergang in den Dünen bei Schmolsien, 1934, Gouache und Aquarell (Lemperz)

In dem Werk "Sonnenuntergang in den Dünen", das in den Dünen bei Schmolsien entstanden ist, ist offenbar ein Blick nach Westen Richtung des dort bekannten Leuchtturms und über den Garder See hinweg eingefangen.

Abb. 14: Toter Wald vor Revekol, 1934, Aquarell und Gouache (Artnet)

In dem Werk "Toter Wald vor Revekol" von 1934 ist ein Blick offenbar von der Lentzke-Düne Richtung Revekol erfaßt (Abb. 14).

1940

.

Abb. 15: Kutter im Mühlengraben in Leba, 1940 (Lsr)

Im Jahr 1940 entsteht wieder einmal ein Werk in Leba (Abb. 15).

1941

.

Abb. 16: Verziehendes Gewitter, 1941 (Lsr)

Das Gemälde "Verziehendes Gewitter" von 1941 könnte im Landesinneren von Pommern entstanden sein, vielleicht im Blauen Ländchen.

Wie Max und Marta Pechstein die Jahre des Zweiten Weltkrieges erlebt haben, wäre an dieser Stelle ebenfalls nachzutragen, insbesondere auch wie sie die Zeit von März bis September 1945 in Pommern erlebt haben. Am 30. September 1945 jedenfalls sind sie wieder in ihrem Haus in Berlin (10; Min. 53:30).

Abb. 17: Garder See und Leba-See in Pommern (Heimat-Karte von 1930, größerer Ausschnitt) (Stolp.de)

Dieser Beitrag soll nach und nach noch ergänzt und vervollständigt werden.

_____________

  1. Lebendes Wasser .... auf Spurensuche. Deutsch-polnischer Fotoworkshop in Holzkathen (Smołdziński Las) an der Pommerschen Ostseeküste, 2014. Projektleitung: Direktorin Heide Schumann vom ZffA gGmbH, Zentrum für fotografische Ausbildung, Berlin (pdf)
  2. Pechtstein, Max: Erinnerungen, 1960 
  3. Dorow, Ulrich (geb. 1932): Leba  im "Blauen Ländchen“, 1357-1945. Hrsg. von Irena Elsner Elsir Verlag, Amberg 2016
  4. Höll, Andreas: Kunstsammlungen Zwickau zeigen Max Pechstein als Fotografen, 2022, https://www.mdr.de/kultur/ausstellungen/zwickau-kunstsammlungen-max-pechstein-als-fotograf-100.html
  5. Witt, Walter: Der Revekol und seine Umgebung in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Stolp i. Pommern o.J. [1934?], http://bibliotekacyfrowa.eu/dlibra/doccontent?id=38235
  6. Zwei Männer - ein Meer - Pechstein und Schmidt-Rottluff an der Ostsee. Ausstellung im Pommerschen Landesmuseum Greifswald 2015
  7. Jürgen Koller: Die Ostsee, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff - Eine Ausstellung im Pommerschen Landesmuseum. Musenblätter, 2015, https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=16186
  8. Andrzej Czarnik: Pomorskie plenery Maxa Pechsteina, 2003, Seite 159
  9. Lawrenz, Manfred: Erinnerungen an das Ostseebad Leba in Pommern. 2003, https://lawrenz.homepage.t-online.de/index.htm
  10. Hauke, Wilfried: Max Pechstein - Geschichte eines Malers, MDR Dokumentation 2020, https://youtu.be/o3f8SbGU_4c.